In den Armen des Scheichs
seltener Kräuter und Tinkturen hatte sie alles ausgeschöpft, doch ohne spürbaren Erfolg. Die Krampfanfälle wurden mit den Jahren immer heftiger und verwandelten Xavians schlanken Knabenkörper in eine jammervolle Gestalt.
Natürlich hatte es immer wieder aufflackernde Gerüchte gegeben: der junge Prinz sei schwach und krank, unheilbar dement und würde nie den Platz seines Vaters auf dem Thron von Qusay einnehmen können.
Doch immer wieder gelang es dem Königshaus, diesen Verdacht zu entkräften und das Volk mit Versprechungen zu trösten und hinzuhalten: Xavian sei langsam auf dem Weg der Besserung und würde eines Tages ebenso stark und gesund wie seine Cousins sein.
Wie eine Löwin hatte Inas Jahr um Jahr um ihr Junges gekämpft. Doch dann hatte sich der Tod in der letzten Nacht wie ein Dieb in den Palast geschlichen und der erschöpften Löwenmutter ihr Kind entrissen …
Und nun musste sie wieder zurückgehen und der Welt mit leeren Armen entgegentreten. Aber wie sollte sie das fertigbringen?
„O Gott … gib mir meinen Sohn zurück!“, schrie sie in ihrer Agonie auf und streckte die Hände gen Himmel. Doch sie bekam keine Antwort. Wimmernd schlang Inas die Arme um ihren Oberkörper und wiegte sich hin und her. Dann kam sie taumelnd auf die Füße und machte sich auf den Heimweg. „Verzeih …“, flüsterte sie wie erloschen. „ Ana asifa … zeig mir meinen Weg! Sag mir, was ich tun soll …“
Ihr Herzschlag stockte, als sie eine dunkle Silhouette zu ihren Füßen auf dem Strand liegen sah. Es war ein Mensch … ein kleiner Junge. Die dunkle Haut war mit nassem Sand bedeckt, die Kleidung zerfetzt.
Hatte sie den Verstand verloren? Gaukelte ihr gepeinigtes Hirn ihr Bilder des verlorenen Sohnes vor? Das musste eine Halluzination sein! Oder hatte eine höhere Macht ihr den Sohn zurückgegeben?
Kraftlos ließ sie sich neben der stillen Gestalt auf die Knie nieder und nahm gar nicht wahr, dass sie dabei eine Melodie summte, die zu einem Kinderlied gehörte, mit dem sie Xavian immer in den Schlaf gesungen hatte, wenn es besonders schlimm um ihn stand.
Zärtlich strich sie dem leblosen Knaben die nassen dunklen Locken aus der Stirn und küsste ihn auf die geschlossenen Augenlider. Plötzlich begannen die langen dichten Wimpern zu flattern, und erst jetzt begriff Inas, dass er noch lebte. Atemlos schaute sie auf den schmalen Brustkorb, der sich in gleichmäßigem Rhythmus hob und senkte.
„Xavian …“, flüsterte Inas mit heißen Tränen in den Augen.
Seine Handgelenke wirkten zerschunden und bluteten, das Gesicht war sonnenverbrannt, doch davon abgesehen machte er einen gesunden, kräftigen Eindruck. Behutsam schob Inas seine Lider auf und schaute in das schwärzeste Paar Augen, das sie je gesehen hatte. Keine Spur von dem strahlenden Blau aus der Al’Ramiz-Linie, doch von einem derart unbedeutenden Detail ließ die sich nicht irritieren.
Dies war Xavian, wie er stark und gesund zur Welt gekommen wäre. Gott hatte ihr Flehen erhört und ihr einen Weg gezeigt …
Mit neu erwachter Kraft hob sie den kleinen Körper hoch, drückte ihn an ihre Brust und eilte zum Palast zurück. Sie durfte keine Zeit verlieren, die Stunde, in der Xavians Tod bekanntgegeben werden sollte, rückte immer näher. Schwer atmend hastete sie die Stufen empor und trat in die Privatsuite, wo der Palastarzt gerade den toten Körper ihres Sohnes mit Tüchern abdeckte.
„Xavian …“, stammelte Inas, und geistesgegenwärtig sprang der Arzt hinzu und nahm ihr die leblose kleine Gestalt ab, ehe die Königin vor Erschöpfung zusammenbrechen konnte. Nach dem ersten Schock erfassten sowohl er wie auch der König, was am Strand passiert sein musste. Natürlich kannten auch sie die Geschichte von dem verschollenen kleinen Prinzen aus Calista.
„Xavian …“, wiederholte die Königin noch einmal beschwörend in Richtung ihres wie versteinert wirkenden Mannes.
„Inas …“ Das Gesicht des Königs von Qusay war von Trauer und Schmerz entstellt, als er seine Frau sanft um die Schultern fasste und zu einem Stuhl führte. „Das ist nicht Xavian, sondern Prinz Zafir. Erinnerst du dich nicht? Es stand in jeder Zeitung. Ich selbst habe mit Scheich Ashraf, dem König von Calista, telefoniert und ihn unseres Mitgefühls und unserer Gebete versichert.“
Doch seine Frau schien ihn gar nicht zu hören. Auf ihrem verhärmten Gesicht lag ein fast überirdisches Lächeln. „Er ist ein Zeichen des Himmels …“
„Nein, mein Herz …
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