In den Fängen der Macht
»Aber warum hätten sie dorthin gehen sollen? Das ergibt doch keinen Sinn. Und warum war Daniel Alberton zu jener nächtlichen Stunde überhaupt dort?« Sie runzelte die Stirn. »Hatte es etwas mit Merrits Flucht von Zuhause zu tun, was meinst du? Dann war er vielleicht immer noch dort, als Shearer kam, um die Waffen zu stehlen?« Sie schüttelte den Kopf.
»Hört sich nicht sehr wahrscheinlich an, nicht wahr?«
Nein, das tat es tatsächlich nicht. Irgendein wichtiger Fakt fehlte noch. Er musste sich konzentrieren, um die Fragen ernst zu nehmen.
»Bist du hungrig?«, fragte sie, und ihre Augen leuchteten auf.
»Ja«, log er, in der Vermutung, dass sie sich mit der Zubereitung des Abendessens Mühe gegeben hatte. Jetzt, da er darüber nachdachte, kam ihm der warme würzige Duft zu Bewusstsein, der aus der Küche drang.
Sie lächelte. »Frische Wildpastete und Gemüse.« Sie sah aus, als wäre sie mit sich selbst sehr zufrieden. »Ich fand heute eine Haushaltshilfe. Sie ist Schottin. Ihr Name ist Mrs. Patrick. Sie ist ein wenig hitzig, aber sie ist eine hervorragende Köchin und bereit, wochentags immer nachmittags für drei Stunden zu kommen, was sehr gut ist, denn die meisten Dienstboten möchten entweder eine Ganztagsstelle oder gar nichts. Manche möchten sogar im Haus wohnen.« Sie betrachtete sein Gesicht. »Sie nimmt eine halbe Krone pro Woche. Denkst du, das können wir uns leisten?«
Er dachte nicht einmal daran, auszurechnen, was sie das im Monat kosten würde. »Wunderbar! Ja. Wenn du sie magst, dann mache die Sache fest.«
»Danke!« Ihre Stimme hob sich. »Ich bin dir sehr dankbar dafür.« Sie berührte ihn nur flüchtig, aber darin lag eine Intimität, eine Vertrautheit, die seinen Puls zum Rasen brachte und die ihm wegen seiner Täuschung Schmerz bereitete. Er wusste nicht, wie er damit leben sollte. Eine Stunde, einen Tag – vielleicht würde er lernen, es für eine gewisse Zeit zu vergessen. Vielleicht würde er nie erfahren, welche Geschäfte er mit Taunton gemacht hatte, ob er Arrol Dundas betrogen hatte oder nicht oder was ihn dazu getrieben hatte. Vielleicht war es einfach nur Gier gewesen, die Sehnsucht nach der Allmacht des Erfolges. Möglicherweise gab es ja auch einen mildernden Umstand – wenn er es doch nur wusste!
Er folgte ihr in die Küche, in der es angenehm kühl war, da die hinteren Fenster offen standen, dennoch duftete es nach den köstlichen Aromen gekonnt gewürzter Speisen. Unter anderen Umständen wäre es eine perfekte Mahlzeit gewesen, und es kostete ihn seine ganzen Verstellungskünste, seine ganze Selbstbeherrschung, so zu tun, als würde er sie genießen.
Hester war sich der innerlichen Qualen ihres Mannes nicht bewusst. Sie hielt sein Verhalten für nichts weiter als die Frustration über einen Fall, den er nicht verstand und der ihn dazu brachte, sich vor ihr zurückzuziehen, weswegen sie beschloss, sobald wie möglich ihre eigenen Ermittlungen anzustellen.
Als er am nächsten Morgen das Haus verließ, um sich auf die Suche nach weiteren Informationen über Shearer zu machen, hatte sie sich entschieden, was sie tun wollte. In ihrem besten Kleid aus blassem blau grauem Musselin machte sie sich auf den Weg, um Robert Casbolt zu besuchen. Sie zweifelte nicht daran, von ihm empfangen zu werden, da er für Judith Alberton und Merrit die tiefste Achtung hegte. Er würde sicher wissen, wie verzweifelt die Situation war, und sich, ungeachtet seiner Verpflichtungen, Zeit nehmen, um zu helfen.
Sie wusste, wo er wohnte, da er es an jenem ersten Abend beim Dinner erwähnt hatte. Kurz nach neun Uhr morgens kam sie an und reichte dem Butler ihre Karte, auf deren Rückseite sie in respektvollen Formulierungen geschrieben hatte, dass sie es als äußerst wichtig erachtete, in Merrit Albertons Interesse so zeitig wie möglich mit ihm zu sprechen.
Sie musste nur fünfzehn Minuten warten, dann wurde sie in einen herrlichen Salon geführt, der durch seine warmen Farben auffiel. Die Wände waren mit Eichenholz vertäfelt, und vor dem großen steinernen Kamin, der zu dieser Jahreszeit halb hinter einem Tapisserieschirm verborgen war, lag ein roter Perserteppich. Das Sofa und die Stühle waren Einzelstücke, einige davon mit Samt, andere mit Brokat und einer davon mit honigfarbenem Leder bezogen, aber insgesamt vermittelte der Raum den Eindruck größter Behaglichkeit. Es gab zwei hohe Stehlampen unterschiedlicher Größe, aber beide hatten Messingfüße und weite achteckige
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