In den Faengen der Nacht
vorbeizukriechen, aber sein Bruder packte ihn grob am Arm und riss ihn auf die Füße.
»Nicht so heftig«, fuhr Susan ihn an. »Du musst ihn doch nicht verletzen!«
Ravyn lehnte sich gegen die Wand und starrte seinen Bruder an. Sein Gesichtsausdruck war wütend und wild, aber in seinen Augen lagen Schmerz und Traurigkeit. »Wirst du mich jetzt wieder umbringen?«
Der Gesichtsausdruck seines Bruders wurde sanfter. »Ich bin’s, Dorian, Rave, nicht Phoenix.«
»Dori …« Die Wut verschwand aus Ravyns Gesicht, und an ihre Stelle trat der Ausdruck tiefer Qual. »Ich wollte das nicht, Dori, wirklich nicht. Du musst mir glauben! Ich wollte ihnen nicht wehtun.« Er ergriff das Hemd seines Bruders und hielt es fest. »Ich wollte nicht, dass irgendjemand stirbt.«
Dorian legte seine Hand um Ravyns Handgelenk. »Das weiß ich.«
Ravyn stieß seinen Kopf so hart an die Mauer, dass der Putz bröckelte. »Wir können sie retten«, sagte er und trat einen Schritt auf die Tür zu, die nach oben führte. »Wir können zurückgehen und es diesmal in Ordnung bringen.«
»Wovon redet er?«, fragte Erika.
Dorian antwortete nicht. Stattdessen fuhr er sie an: »Geh rauf, Erika.«
In ihrem Gesicht war klar zu erkennen, dass sie streiten wollte, aber dieses eine Mal gehorchte sie.
»Wir müssen gehen«, insistierte Ravyn.
Aber in dem ernsten Gesichtsausdruck seines Bruders lag keine Gnade. »Sei nicht dumm.« Er schob Ravyn von sich.
Susan starrte Dorian an, als Ravyn taumelte und beinahe hinfiel. »Du Arschloch«, knurrte sie und konnte Ravyn gerade noch mit ihrem Körper auffangen.
Ravyn hielt inne, als sich ihre Blicke trafen, und er schaute sie an. Zum ersten Mal in dieser Szene sah er sie und nicht Zatira. Seine Züge entspannten sich, und ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Du siehst aus wie ein Engel …« Seine Augen verdrehten sich zur Seite, und er brach zusammen.
Dorian stieß ein gereiztes Schnauben aus, als Ravyn zu Boden fiel. Nicht gerade zartfühlend hob er ihn hoch und trug ihn zur Matratze zurück. Susan wollte dagegen protestieren, aber sie hätte Ravyn allein nicht bewegen können. Sie verfluchte seinen Bruder dafür, dass er sich so herzlos verhielt.
»Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«, fragte Dorian, als er sich aufrichtete.
»Ungefähr seit zwei Stunden.«
Dorian schüttelte den Kopf und sah auf Ravyn, der bewegungslos dalag. »Brauchst du eine Verschnaufpause?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn misstrauisch von oben bis unten an. »Das hängt ganz davon ab. Wirst du ihn verprügeln, wenn ich weg bin?«
Sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er ihre Frage nicht lustig fand, was auch gut so war, denn sie hatte keinen Scherz machen wollen. »Nein.«
Sie fühlte sich ein bisschen besser … aber nur ein bisschen. Sie vertraute Dorian nicht. Aus dem Handbuch wusste sie, dass er ein arkadischer Were-Hunter war. Eigentlich war er ein Mensch, aber er konnte sich auch in ein Tier verwandeln. Andere Arten von Were-Huntern besaßen das Herz von Tieren, das waren die Katagaria. Anders als Ravyn und seine Familie waren sie in Wirklichkeit Tiere, die Menschengestalt annehmen konnten. Sie konnte zwischen ihnen keine großen Unterschiede erkennen, denn der sogenannte »menschliche« Zweig schien ihr genauso gefühllos zu sein wie jedes Tier, dem sie je in der Wildnis begegnet war.
Doch als Journalistin hatte sie viele Menschen getroffen, die sie ganz klar nicht als Menschen, sondern als Tiere einstufen würde. Einige sogar bei den Amöben.
Und die Journalistin in ihr hatte noch etwas anderes, was sie neugierig machte. »Wer war Zatira?«
Schmerz verdunkelte Dorians Augen, ehe er antwortete. »Meine Schwester.«
»Also war sie auch Ravyns Schwester?«
Er bejahte das durch einen Blick, aber er wollte es nicht eingestehen.
Das zog eine weitere Frage nach sich. »Was ist mit ihr geschehen?«
Der Schmerz, der in seine Augen sickerte, ergriff seinen ganzen Körper. Es war ganz klar, dass er ihren Verlust genauso tief spürte wie Ravyn. »Sie ist vor dreihundert Jahren getötet worden.«
Susan zuckte zusammen. »Wie ist sie umgekommen?«
»Es waren Menschen, die sie getötet haben.« Er stieß das Wort hervor, als ob der Gedanke, ein Mensch zu sein, das Schlimmste war, was er sich denken konnte. Er warf ihr den hasserfülltesten Blick zu, den sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. »Sie haben sie brutal abgeschlachtet … unsere Mutter, die Frau von Phoenix und
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