In den Fesseln des Wikingers
zu spüren. Papia jedoch starrte mit sehnsüchtigen Augen auf die schmalen Turmfenster und hoffte inständig, wenigstens einen Schatten oder gar ein Gesicht erhaschen zu können.
„Komm jetzt ins Haus“, befahl Rodena. „Wir sind schon nass genug. Vermutlich werden sie die ganze Nacht essen und zechen.“
Papia gehorchte, wenn auch widerstrebend. Das Häuschen war voller Rauch, denn die Alte hatte die Öffnung im Strohdach wegen des Regens wieder verschlossen, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Die beiden Frauen setzten sich neben die Feuerstelle und versuchten, ihre feuchten Kleider zu trocknen. Rodena war in Hochstimmung, denn ihr Plan war gelungen, sie hatte Thores Leben gerettet. Nun war es Zeit, auch an sich selbst und Papia zu denken.
„Morgen werde ich Alain bitten, uns in unsere Heimat zurückkehren zu lassen“, verkündete Rodena. „Ich werde dich zu deiner Tante begleiten, damit du sicher dort ankommst.“
Papia hielt einen Zipfel ihres nassen Gewandes ans Feuer und schwieg zu diesem Vorschlag.
„Ich werde deiner Tante versichern, dass dir nichts geschehen ist, Papia“, fügte Rodena lächelnd hinzu. „Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Aber vielleicht möchte Ubbe ja, dass ich mit ihm gehe“, sagte die Kleine leise. „Er ist schließlich mein Beschützer.“
„Du hast wohl ganz und gar den Verstand verloren!“, platzte Rodena heraus, die sich schon so etwas gedacht hatte. „Willst du vielleicht mit diesen Dieben und Mördern durch die Gegend ziehen?“
„Warum denn nicht? Bei meiner Tante werde ich vom Morgen bis zum Abend hart arbeiten müssen, und sie wird nicht freundlich zu mir sein, denn sie hat selbst fünf Kinder zu versorgen. Wenn ich mit Ubbe gehe ...“
„... dann wirst du seine Sklavin sein, Papia!“, fiel ihr Rodena ins Wort. „Oder glaubst du vielleicht, ein Wikinger nimmt eine Fränkin zur Frau? Diese Burschen heiraten nur ihresgleichen, aber sie halten sich jede Menge Sklavinnen, die der Herrin zu gehorchen haben.“
Erschrocken hob Papia den Blick zu ihr. „Aber er hat mich verteidigt und wäre fast dabei umgekommen. Weshalb sollte er sein Leben für eine Sklavin einsetzen?“
„Weshalb nicht? Er setzt sein Leben ja auch für ein paar Silbergeräte und einen Ballen Stoff ein. Wach auf, Mädchen! Es hat nichts mit Zuneigung zu tun, wenn so ein Kerl dich beschützt. Du bist sein Eigentum, seine Beute. Und die gibt er nicht gern her.“
„Du bist ungerecht, Rodena!“, heulte Papia, deren Augen sich wieder einmal mit Tränen gefüllt hatten. „Er hat mir sein Schild gegeben. Das hätte er nicht tun müssen. Ubbe hat mir von seiner Heimat erzählt … er hat sie so liebevoll beschrieben ...“
„Schluss jetzt! Du wirst mit mir zu deiner Tante reisen!“, sagte Rodena wütend. „Und später wirst du mir dankbar sein, dass ich dich davor bewahrt haben, Sklavin eines Wikingers zu werden.“
Papia schwieg verstockt, und Rodena legte sich auf ihr Lager, denn sie hatte wenig Lust weiterzustreiten. Sie wusste, dass sie recht hatte, zugleich aber spürte sie, dass sie nicht nur zu Papia redete. Sie musste sich auch vor sich selbst schützen, denn wenn man Thore und seinen Männern bald die Freiheit gab, würde sie den Wikinger niemals wiedersehen. Wenn alles gutging, würde sie bald wieder zu ihrer Mutter in das stille Quellheiligtum zurückkehren, und das Leben würde in gewohnten Bahnen verlaufen. Sie würde Thore Eishammer, den Wikinger, gewiss bald vergessen. Er war ein Dieb und ein Mörder, es lohnte nicht, länger an ihn zu denken. Schon gar nicht, sich um sein Schicksal zu sorgen. Oder sich gar nach ihm zu sehnen ...
Sie drehte Papia den Rücken zu, denn die Kleine sollte auf keinen Fall bemerken, dass sie weinte. Es war nicht leicht, sich Thore aus dem Sinn zu schlagen.
Schon am Nachmittag des folgenden Tages begriff sie, dass sie keinen Grund zum Weinen gehabt hatte. Sie hätte besser fluchen sollen.
Alain hatte sich nicht lumpen lassen und die neuen Bundesgenossen mit Gewändern und Waffen ausgestattet. Von einigen Kriegern begleitet, ritten die Wikinger aus der Burg, gefolgt von zwei Pferdefuhrwerken. Auf dem einen befanden sich Lebensmittel, die Alain seinen neuen Freunden großzügig geschenkt hatte. Auf dem anderen hockten Rodena und Papia.
Thore hatte die Druidin von Alain gefordert, und er hatte sie bekommen.
***
Von kräftigen Ruderschlägen getrieben schoss das Drachenboot flussabwärts, und obgleich etliche Männer an den Rudern
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