In den Fesseln des Wikingers
zerteilst die Haut des Wildschweins, noch bevor du es erlegt hast, Sigurd“, sagte er schmunzelnd. „Aber sei unbesorgt: Ich bin kein Mann, der zum Herrn der Normandie taugt. Diese Ehre werde ich gern dir überlassen.“
Sigurd blickte ihn misstrauisch an, denn er konnte sich nicht denken, dass Thore tatsächlich keinen Ehrgeiz hatte, ein großes Land zu beherrschen. Wahrscheinlich wollte er ihn nur in Sicherheit wiegen, um ihn später umso leichter zu verdrängen. Thore war höchstens halb so alt wie er selbst, und seine Männer gingen für ihn durchs Feuer.
„Wie du willst“, meinte er und strich sich über den struppigen Bart. „Ich werde meiner Schwester erzählen, dass du dich gegen sie entschieden hast. Es wird sie betrüben.“
„Dann solltest du sie rasch mit einem anderen verheiraten“, gab Thore zurück. „Fehlt es etwa an Männern in diesem Lager? Es sind viele hier, die eine Frau wie Gudrun verdient hätten.“
Sigurd zog eine saure Miene und erhob sich. Trotz der Knieverletzung stand er rasch auf den Füßen, denn er hatte gelernt, sein Körpergewicht beim Aufstehen auf das gesunde Bein zu verlagern. In seltsam wiegendem Gang entfernte er sich von Thores Zelt.
Die Sache gefiel Sigurd nicht. War Thore etwa bereits dabei, ihn auszubooten? Er dachte an die jungen Burschen, die er aus Norwegen mitgebracht hatte und die den hochgewachsenen, muskulösen Thore voller Bewunderung angestarrt hatten. Sorge erfasste ihn. In wenigen Tagen konnte es sein, dass die Mehrheit der Männer bereits auf Thores Seite war. Soweit durfte er es auf keinen Fall kommen lassen.
Er würde mit seiner Schwester reden. Thore war ein kräftiger, junger Kerl, er würde einem verlockenden Weib gewiss nicht widerstehen können. Hatten die beiden dann erst einmal im gleichen Zelt geschlafen, konnte Thore sich nur schwer weigern, Gudrun zur Frau zu nehmen. Tat er es aber dennoch – umso besser!
***
Rodena erwachte mitten in der Nacht von einem Ruf, der sie schweißgebadet vom Lager auffahren ließ.
Flieh!
Sie spürte, wie ihr Herz raste, und sie konnte zuerst nicht begreifen, dass Papia und Ubbe, die dicht neben ihr eng umschlungen schliefen, diese laute Stimme nicht vernommen hatten. Dann erst erkannte sie, dass es ihre Göttin war, die nach ihr rief.
Flieh!
Noch nie zuvor hatte Sirona, ihre heitere Quellgöttin, so angstvoll geklungen, auch hatte sie ihr noch niemals ungefragt Befehle erteilt. Rodena hielt sich die Hände über die Ohren, doch der Ruf ihrer Göttin erreichte sie dennoch.
Flieh!
Es half nichts, sie würde gehorchen müssen. Doch weshalb? Welches Unheil nahte ihr? Und vor allem: Was würde mit Thore geschehen? Auf keinen Fall würde sie allein von hier fortlaufen – was auch geschah, sie würde mit ihm gemeinsam fliehen.
Leise erhob sie sich. Das Wikingerlager lag in tiefster Ruhe, die Männer schliefen, und ihr Schnarchen war weithin zu vernehmen, auch die zwei Wächter am glimmenden Feuer kämpften mit der Müdigkeit. Ein breiter Sichelmond stand über den Felsen, doch sein Licht war unstet, es wurde immer wieder von den vorüberjagenden Wolken verdeckt.
Rodena zog sich eine Decke um die Schultern, denn die Nacht war kühl, und ging ein paar Schritte. Die Stimme der Göttin schwieg jetzt – hatte sie sich das alles vielleicht nur eingebildet? Ein Nachklang der schlimmen Visionen, die sie gestern heimgesucht hatten? Im Watt spiegelte sich der Mond in einer Wasserlache, daneben hockten einige Seevögel, die den Kopf ins Gefieder gesteckt hatten und schliefen.
Sie starrte hinauf zu den steilen Klippen, die im Mondlicht fast weiß erschienen, und versuchte zu erkennen, ob dort oben vielleicht feindliche Normannen standen. Es war niemand zu sehen, nur die schwarzen Wolkenschatten glitten über das helle Gestein, als flöge dort oben eine Schar dunkler Reiter durch die Luft.
Sie wickelte den Mantel enger um sich, denn die Schatten ängstigten sie. Nein, sie hatte sich die Stimme nicht eingebildet, irgendetwas lauerte hier, und die Stille war nur die kurze Frist, in der das Unheil Atem holte.
Dieses Mal würde sie nicht schweigen und abwarten, sie würde sich dem Schicksal entgegenstellen, denn Thores Leben, das sie nur mit Mühe hatte retten können, war mit Sicherheit in Gefahr.
Sie überflog die Zelte mit raschem Blick, um herauszufinden, unter welcher dieser aufgespannten Häute er schlief. Es war nicht einfach, denn die Zelte ähnelten einander, so dass sie von einem zum anderen gehen musste
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