In den Fesseln des Wikingers
„Du hast solche Mühe mit mir. Ich wünschte, ich könnte wenigstens ein paar Schritte gehen.“
„Trink“, gab sie zurück und hielt ihm den Wasserschlauch an den Mund. „Wir haben es gleich geschafft. Ich muss verrückt sein.“
Während sie den Karren ächzend über Laub, Moos und Wurzeln zerrte, dämmerte er vor sich hin, sah die kahlen Äste vor dem Abendhimmel blasser werden und grübelte darüber nach, welch seltsame Reise sie beide da taten und wohin sie wohl führen würde.
***
Als sie vor dem steinernen Mund des Felsens angekommen waren, schien es, als sei Thore nicht mehr bei Bewusstsein. Angstvoll beugte sie sich über ihn, rieb seine Arme, massierte vorsichtig seinen Brustkorb und versuchte, ihm noch etwas Wasser einzuflößen. Er verschluckte sich, hustete krampfhaft und blinzelte sie aus halbgeschlossenen Augen an.
„Wo hattest du den Karren her?“, murmelte er.
Seine Stimme klang fremd, fast wie das Krächzen eines Raben. Die Wunde an seinem Hals war geschwollen, sie würde Kräuter und Moos benötigen, damit sie nicht brandig wurde. Doch die Zeit der Heilkräuter war fast vorüber, und sie kannte sich in diesem Wald nicht aus.
„Trink!“
Er schluckte etwas Wasser, ließ den Kopf dann wieder müde zurücksinken, und sein Blick irrte über den grauen Fels. Er schien verwirrt, mühte sich zu begreifen, was geschehen war.
„Und dieser Ziegenbock? Hat ihn dir deine Göttin gebracht?“
„Nein. Sei jetzt still, es ist nicht gut, wenn du so viel redest.“
Er lag ausgestreckt auf dem Karren, und sein nackter, mächtiger Körper glich dem eines gefallenen Riesen. Er war schön, selbst jetzt, da er seine Muskeln kaum anspannte und sein Kopf matt zur Seite hing. Nun entdeckte sie auch weitere Verletzungen an Bauch und Schenkeln, sie waren jedoch nicht lebensgefährlich und würden bald verheilen.
„Du hast ihn geklaut“, sagte er und grinste sie mit seltsam verzerrter Miene an. „Du hast Bock und Karren irgendwo auf einem Bauernhof gestohlen.“ Sie wusste, dass er im Fieberwahn redete, dennoch konnte sie sich eine ärgerliche Antwort nicht verkneifen.
„Du gerade musst vom Stehlen reden. Ist Stehlen und Morden nicht die Hauptbeschäftigung der Wikinger?“
Er stützte die Ellenbogen auf und hob mühsam den Oberkörper an, sein Grinsen schwand dabei. Keuchend sah er zu, wie sie trockenes Laub zusammenraffte, um es in den schmalen Höhleneingang zu tragen. Es wurde bereits dunkel, und der Wind war kühl, doch er spürte keine Kälte. Im Gegenteil – aus seinem Inneren stieg eine glühende Hitze auf, als habe jemand ein Feuer in seinem Leib entzündet.
„Nein“, widersprach er mit schwerer Zunge. „Wikinger fahren in die Fremde, um dort zu kämpfen und Beute zu machen. Würde ich das gleiche in meiner Heimat tun, dann wäre das Diebstahl und Mord.“
Das war ebenso einfach wie verblüffend. Es fielen ihr zwar einige Dinge ein, die sie hätte dagegenhalten können, aber sie erkannte den fiebrigen Glanz in seinen Augen und beschloss, ihn nicht weiter in Gespräche zu verwickeln.
„Ich habe Bock und Wagen nur ausgeliehen“, stellte sie richtig.
Er machte einen schwachen Versuch zu lachen, der jedoch in einem krächzenden Hustenanfall endete, doch es gelang ihm jetzt, von der zweirädrigen Karre herunterzurutschen. Benommen hockte er auf dem Boden, tastete mit beiden Händen über seinen Körper, befühlte den Verband um seinen Hals und zerrte daran herum.
„Dieser Stoff drückt mir die Luft ab. Was ist darunter? War es ein Messer? Ein Beil? Verflucht, ich fürchte, es war Sigurds Dolch ...“
„Was auch immer es war – ich werde dich heilen, Thore. Sei jetzt ruhig und lass den Verband in Ruhe.“
Er sackte erschöpft nach vorn, berührte mit der Stirn die angezogenen Knie, und sie sah, dass das Fieber ihn schüttelte. Thore war stark, und er wollte leben – aber er hatte viel Blut verloren und lange ohne den Schutz der Kleidung in der Kälte gelegen.
Sie versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass er in die Höhle kriechen musste, wo sie ihm ein Lager aus Laub bereitet hatte, doch er wehrte sich mit solcher Hartnäckigkeit, dass sie fast verzweifelte.
„Kerzen“, keuchte er. „Du musst die Kerzen anzünden. Sie liegen in der großen Truhe unter der Bank. Zünde sie alle an, es muss hell sein ...“
Wieso fürchtete ein Wikinger die Dunkelheit? Sagte man nicht, dass es dort oben in Norwegen das halbe Jahr über Tag und Nacht dunkel war? Dann musste er eigentlich an
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