In den Häusern der Barbaren
dass wir uns nicht einschüchtern lassen«, stimmte Octavio zu.
»A fin de cuentas, se trata de la dignidad de uno« , sagte sie und dachte, wie lange es schon her war, dass sie dieses abstrakte Wort auf sich selbst gemünzt hatte. Dignidad. Würde. »Aber manchmal muss man auch praktisch denken. Warum soll ich bloß um des Rechthabens willen in einer Zelle leiden, wo mir jede loca über den Schädel hauen kann? In amerikanischen Gefängnissen gibt es nicht viel dignidad .«
Nach dem Essen saß Araceli allein auf den Verandastufen und dachte über ihre Entscheidungen nach und über die Stille auf der Straße. Vielleicht waren die Nachbarn alle in ihre Verstecke gekrochen, als sie von ihrer Rückkehr gehört hatten. Sie genoss die sommerliche Ruhe, die Hitze, die sich langsam in den feurigen Abendhimmel auflöste, die Spatzen, die zwischen den Jacarandas und Ahornbäumen herumflitzten. Vor ein paar Tagen erst hatte sie auf dem schmalen gepflasterten Weg, der den Rasen teilte, dem Sergeant gegenübergestanden und war verhaftet worden. Jetzt war sie wieder frei, doch niemand war hier, ihren Moment der ungebundenen Langeweile zu fotografieren und zu dokumentieren. Ein Eisverkäufer schob auf dem Gehweg seinen Wagen vorbei, schaute zu Araceli und winkte. Einen Augenblick später bog ein großer roter Pick-up in die Straße ein und parkte vor dem Haus der Covarrubias. Der Fahrer sah irgendwie vertraut aus.
»¡Gordito!« , rief sie und merkte sofort, dass sie ihn nicht gut genug kannte, um ihn so anzureden. »Felipe!«
Felipe sah sowohl größer als auch breiter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und seine schwarzen Locken waren länger. Er ging breitbeinig in einer weißen Malerhose mit gelben und pfirsichfarbenen Flecken den Gartenweg entlang und sah sie mit der erwartungsvoll-nervösen Miene eines Autogrammjägers an. Er hält mich auch für eine Berühmtheit! Wie witzig! Er kam zur Veranda und steckte die Hände tief in die Taschen. »Man hat mir erzählt, dass du hier wohnst, in dieser Straße, aber ich wusste nicht, in welchem Haus. Darum wollte ich meinen Wagen parken und einfach überall anklopfen. Aber dann habe ich dich hier sitzen sehen.«
» ¿Qué pasó? Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Und dann ist das alles mit den Jungen passiert.«
»Ich wollte dich anrufen, aber dann hat mein Onkel uns diesen Job oben in San Francisco besorgt, für eine Woche. Und als ich zurückkam, warst du ständig im Fernsehen. No lo podía creer. Ich habe die Nummer, die du mir gegeben hast, dreimal angerufen, aber sie haben immer gleich aufgelegt.«
Er setzte sich neben sie auf die Verandastufen, legte seine großen Hände auf die Knie und atmete kraftvoll aus. Eine Stunde lang redeten sie über ihre Festnahme, über die verschiedenen Fernseh- und Radiosendungen, in denen ihr Fall besprochen worden war, über die aktuelle Lage in Mexiko und wie es für Araceli wäre, dorthin zurückzukehren. Felipe hatte seit seinem achten Lebensjahr nicht mehr in Mexiko gelebt und daher einen sehr wohlwollenden Blick auf das Land: ein Ort, wo Onkel und Großeltern auf ranchos lebten, umgeben von Kühen, Pferden und Geflügel. Gleichzeitig war ihm natürlich bewusst, dass Mexiko City eine ganz andere Welt war. »Ich war noch nie in der Hauptstadt, aber Sonora habe ich als herrlichen Ort in der Wüste in Erinnerung.« Felipe hatte den größten Teil seiner Schulzeit in den USA verbracht, erfuhr Araceli, und sprach sowohl Englisch als auch Spanisch makellos. Sie drängte ihn, etwas auf Englisch zu sagen, und als er es tat, erschauerte sie gespielt und sagte: » ¡Ay! Qué sexy eres, wenn du Englisch sprichst.« Er gehörte zu den Leuten, die mühelos zwischen beiden Sprachen und Umgebungen hin und her wechseln können, ohne dafür die gebührende Anerkennung zu erhalten. In jeder Minute ihrer Unterhaltung erfuhr Araceli mehr, und ihr gefiel jedes kleine Detail. Der Himmel verlor langsam sein Leuchten, die Lichter in den umliegenden Häusern gingen an, und sie redeten immer noch, unterbrachen sich nur, als Luz Covarrubias ihnen zwei Gläser agua de tamarindo nach draußen brachte. » Qué bonito, dass ein junger Mann und eine junge Frau sich so angeregt auf meiner Veranda unterhalten.«
In die folgende verlegene Stille dröhnte ein Motor, und kurz darauf sahen Araceli und Felipe einen blauen Lieferwagen mit Satellitenschüssel auf dem Dach um die Ecke biegen.
»Oooh. La prensa« , sagte Araceli. »Vámonos.«
Sie standen auf, drehten
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