Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
dreihundert unterschiedlichen Büchern, die in den Regalen standen. Wenn Araceli allein in diesem Zimmer war, schaute sie manchmal minutenlang die Bücher an, vor allem die Reihe von elf gebundenen Bänden, welche die Kinder mit Michelangelo, Rembrandt, van Gogh, Picasso und anderen großen Meistern der Kunstgeschichte vertraut machen sollten. Außerdem gab es Bücher, aus denen beim Öffnen dreidimensionale Drachen oder Burgen hervorklappten oder die Grillenzirpen, Dschungelschreie, Pfiffe ertönen ließen. Jedes Kind überall auf der Welt hätte für so ein Zimmer getötet und ebenso für eine Mutter, deren Hauptbeschäftigung darin bestand, ihre Nachkommenschaft zu »stimulieren«. Diese Jungen wussten ihr Glück natürlich nicht zu schätzen. Wenn ich als Kind eine Mutter wie la señora Maureen gehabt hätte … Manchmal verglich sie in Gedanken ihre strenge Kindheit mit dem Überfluss, in dem die Kinder der Torres-Thompsons lebten – und das waren die einzigen Momente in Aracelis Arbeitsalltag, in denen sie Selbstmitleid und Wut über die Entbehrungen und Ungleichheiten, die ihr täglich vor Augen gehalten wurden. Die Welt ist groß und aufgeteilt in Reich und Arm, genau wie die humorlosen Linken an der Uni gesagt haben. Was wäre aus mir geworden, wenn ich eine Mutter wie Maureen und so ein Zimmer gehabt hätte?
    Als Nächstes machte Araceli alle Betten im Haus, sammelte die Kissen und Decken von der Couch, auf der el señor Scott offenbar genächtigt hatte, legte sie zusammen und räumte sie weg. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sie mit dem Staubwedel über die Möbel, Regale und Vasen fuhr und die Federn dabei leicht drehte, als würde sie auf alles eine Schicht unsichtbares Rouge auftragen. Wie üblich verharrte sie ein wenig länger bei den Familienfotos, die in einem der Bücherschränke aufgestellt waren, darunter auch ein sepiabraunes Bild von el señor Scotts Vater: Auf diesem Foto war der alte Torres ein kleiner Junge, kaum älter als Brandon jetzt, aber magerer. Mit erschrocken-verwirrtem Blick lehnte er in einer schlecht sitzenden Cordhose an einer Adobewand, und Araceli nahm an, dass die Aufnahme in Nordmexiko entstanden war, in einer trockenen Gegend, wo die Opuntien die einzigen grünen Fleckchen in einer sonst sandbraunen Landschaft boten. Das paradoxe Gefühl, das sie hier in dem reichen kalifornischen Haushalt beim Anblick dieses Zeugnisses mexikanischer Familiengeschichte beschlich, wich nie ganz. In demselben Bücherschrank stand noch ein weiteres Foto desselben Jungen, diesmal stand er als Teenager vor einem Bungalow in einer Stadt, bei der sich wohl um Los Angeles in den Vierzigern oder Fünfzigern handelte, vermutete Araceli. Ein paarmal war die abgebildete Person zu Besuch in das Haus seines Sohnes gekommen, verwandelt in einen Rentner mit Hang zu frotzelnden Bemerkungen. Araceli nannte den alten Herrn mit beißender Ironie »el abuelo Torres« ; da er nie auch nur ein Wort Spanisch sprach, sich im Englischen aber einen leichten Akzent bewahrt hatte, der darauf schließen ließ, dass seine Zunge sich heimlich wünschte, das eine oder andere eñe oder erre aussprechen zu dürfen. Nie antwortete er auf Aracelis Buenas tardes in Spanisch. Araceli hatte den Eindruck, dass der Alte inzwischen aus dem Haus verbannt worden war; sie hatte ihn seit etwa zwei Jahren nicht gesehen, und welcher mexikanische Großvater hätte seine Enkel nicht so oft sehen wollen, wie er nur konnte?
    Araceli kitzelte den armen mexikanischen Jungen auf dem Foto ein bisschen länger als nötig mit den Federn, dann ging sie in die Waschküche, um Wäsche zu sortieren. Die paar Sachen, die gebügelt werden mussten, ließ sie bis zuletzt liegen, den Rest stapelte sie nach Familienmitgliedern geordnet auf, von Scotts Sweatshirts und Pyjamas bis zum kleinsten Stapel mit Samanthas Bodys und kleinen Röckchen. Ein Uhr, und die Torres-Thompsons waren immer noch nicht wieder da. ¿A donde habrán ido? Die Sachen wanderten in den aufgeräumten Bereich hinter den Kulissen des Hauses, in die begehbaren Wandschränke, die es in jedem Schlafzimmer gab und die so minimalistisch ausgestattet waren wie in einer Designzeitschrift. Die Regalfächer bestanden aus dünnen weißen Metallplatten, die in der Luft schwebten, die Pullover und Handtücher und Jeans hingen wie Wolken über Aracelis Kopf. Die Gleichförmigkeit dieser aufgestapelten Kleidung, der leichte Duft nach Mottenkugeln, die Araceli hier und dort strategisch platziert

Weitere Kostenlose Bücher