In den Klauen des Bösen
konnte den Eindruck einfach nicht verdrängen. Zweimal ging er ins Badezimmer, schloss die Tür, stellte sich vor den Spiegel und suchte nicht nur nach einer Spur des Bildes, das er gesehen hatte; er prüfte auch sein eigenes Spiegelbild und suchte darin die Züge des alten Mannes und sich selbst als verschrumpeltes Relikt seiner momentanen Erscheinung wiederzuerkennen.
Doch er sah nur die vertrauten Züge, die klaren blauen Augen, das kräftige Kinn, die Grübchen in den Wangen, die sich beim Lächeln vertieften, und sein eigenes blondes Kraushaar.
Das Bewusstsein musste ihm abends einen Streich gespielt haben.
Schließlich legte er das Buch beiseite, knipste das Licht aus und zog die Decke hoch.
Draußen schien hell der Mond. Die Nacht war voll von der Musik der Frösche und Insekten.
Solche Nachtmusik hatte Michael bisher stets als beruhigend empfunden.
Diesmal warf er sich unruhig hin und her, ohne Schlaf finden zu können.
Und als der Schlaf kam, waren seine Träume von dem Gesicht beherrscht, das aus dem Dunkel auf ihn zuschoß, und Krallenfinger streckten sich nach ihm aus.
Unter dem Eindruck des Alptraums wachte er dreimal schweißgebadet und völlig verkrampft auf.
Beim viertenmal begann es draußen zu dämmern. Das Morgenlicht schien das Gespenst zu vertreiben.
Clarey Lambert hatte in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Sie schien bereits über neunzig zu sein; ihr genaues Alter war ihr längst gleichgültig geworden. Wichtig war nur, dass sie noch lebte - und geistig wach blieb.
Clarey lebte fünf Meilen außerhalb von Villejeune für sich allein. Fünf Meilen Vogelflug. Mit dem Boot war es viel weiter, da musste man sich durch die Bayous winden und nach all den Wegmarken richten, um auch wirklich bei ihr anzukommen. Zu Clareys Haus fanden in der Tat nur wenige Leute; oft vergingen Wochen, bevor sie eine Menschenseele zu Gesicht bekam. Doch wann immer ihr die Nahrungsmittel ausgingen, tauchte jemand auf und stockte ihren Vorrat an Reis, Mehl oder was ihr sonst fehlte, wieder auf. Auf der Insel hinter der Hütte hatte sie vor langer Zeit ein kleines Stück Land gerodet; dort zog sie Gumbo, Bohnen und Süßkartoffeln für den Eigenbedarf sowie einen kleinen Überschuss, für den sie im Tauschhandel mit anderen Sumpfratten bekam, was sie sonst noch brauchte.
Als das Grau der Morgendämmerung sich aufhellte, regte Clarey sich im Stuhl auf der Veranda und streckte die Glieder. Sie taten ihr weh. Alles in allem war es freilich ganz erträglich. Sie ging zu den Schuppen, wo sie die längste Zeit ihres Lebens gewohnt hatte - hier hatte sie auch ihre Kinder geboren, von denen nur noch eins lebte -, und stocherte in der glühenden Asche im Herd. Sie legte ein bißchen Zypressenholz nach und setzte den Kessel auf.
Kaffee - dick und schwarz, mit Zichorie vermischt - würde die Gicht aus den Knochen vertreiben.
Sie stand noch am Herd, als sie jemanden kommen spürte, und ging steif zurück auf die Veranda, wo sie mit unverminderter Sehkraft zu den Bayous spähte.
Keine Minute später tauchte aus dem Schilf ein Ruderboot auf und glitt über das Wasser. Im Boot saßen zwei Jungen: Beide waren noch keine zwanzig Jahre alt, beide trugen schmutzige Overalls mit einem Träger. Quint Millard legte die Riemen flach. Das Boot drehte und blieb dicht vor Clareys Veranda stehen. Von der hinteren Bank sah Jonas Cox zu Clarey empor, mit Augen, deren Blick trübe wirkte. Aber Clarey wusste, was ihn innerlich bewegte, auch wenn seine Miene es nicht verriet.
George Coulton.
»Es war nich’ deine Schuld, Jonas«, tröstete sie ihn. »Du hatt’st keine Wahl. Verstehst du mich?«
Jonas zog die Stirn in Falten. »George war mein Freund. Ich wollt’ nich’...«
»Du hast getan, wozu der Schwarze Mann dich zwang«, sagte die Alte. »Dagegen is’ nix zu mach’n. Aber vergiß nich’: Du hast überhaupt nix getan. Verstehst du mich?«
Jonas nickte stumm. Clarey wandte sich an Quint Millard. »Hast mir auch ‘was zu sagen?«
»Hab’ wen geseh’n letzte Nacht«, erwiderte Quint.
Clarey spannte sich. »Wen?« fragte die Alte. »Wo?«
»Am Kanal, wo die neu’n Häuser ‘baut werden.«
Die Miene der Alten wurde düster. Sie wusste von dem Bauprojekt. Sie kannte den Bauträger - sie kannte in Villejeune jeden. Sie mochte Carl Anderson nicht. Nicht nur wegen des Moors, das er hier ein Stück austrocknete, dort ein Stück rodete und für all die Menschen und Tiere zerstörte, die hier seit Hunderten von Jahren
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