In den Klauen des Bösen
bin Michael Sheffield.«
Sie zogen gemeinsam das Motorrad auf die Straße, untersuchten, ob es beschädigt war; beim dritten Versuch sprang der Motor an.
Michael warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Ein Mädchen wie sie hatte er höchstens mal im Fernsehen gesehen. Sie gefiel ihm aber trotz der Haarfarbe und des komischen Schmucks.
Sie hatte etwas Besonderes an sich. Es lag an den Augen.
Etwas Vertrautes.
Und mit einem Mal wusste er, was es war.
Er war sicher, dass sie trotz ihres Äußeren, hinter dem komischen Make-up und den komischen Kleidern, so war wie er. Dass auch sie dieses schreckliche Bewusstsein haben musste, anders zu sein.
»Möchtest du mitkommen?« fragte er und rechnete mit einer Absage.
Aber sie nickte. »Sehr gern«, sagte sie. »Wohin könnten wir denn fahren?«
»Ich habe einen freien Tag.« Das kurze Flackern in Michaels Augen verriet ihr, dass er nicht die Wahrheit sagte. »Wir könnten einkaufen und irgendwo Picknick machen.« Er wendete die Maschine, stieg auf und stützte sie mit den Beinen ab, als Kelly auf den Beifahrersitz kletterte.
»Müssten wir dann nicht in die Stadt zurück?« wollte Kelly wissen.
Michael antwortete nicht, sondern fuhr einfach los.
Als sie sich von Villejeune entfernten, dachten beide das gleiche.
Ich kenne diesen Menschen. Ich habe ihn schon mein ganzes Leben lang gekannt. Das ist der Freund, dem ich bisher nur noch nicht begegnet bin.
Begreifen konnten beide es nicht, dass sie vom Augenblick der ersten Begegnung etwas verband.
7
Tim Kitteridge fragte sich allmählich, ob er einen Fehler begangen hatte. Seit zwei Stunden befand er sich jetzt im Moor; er hatte sich an die Landkarte gehalten, die Phil Stubbs für ihn gezeichnet hatte, und sich anscheinend trotzdem verirrt.
Kein Wunder, denn für ihn sah hier alles gleich aus. Überall ragten winzige Inseln aus den seichten Stellen der Bayous; eine glich der andern. Selbst die Sonne half ihm nicht weiter. Es war Mittag; sie stand fast senkrecht oben am Himmel und warf keine Schatten. Er konnte sich wenden, wohin er wollte: er würde nirgends einen Unterschied merken.
Er bewegte sich langsam voran. Der Außenbordmotor im Heck tuckerte leise. Da spürte er Boden unter dem Kiel. Er stellte den Motor ab. Als er ihn zu heben und den Propeller über die Wasseroberfläche zu hieven versuchte, war es, wie er gleich merkte, schon zu spät. Der Propeller steckte bereits im Schlamm fest, der keine zehn Zentimeter unter dem dunklen, braunen Wasser lag. Er wollte das Boot mit den Rudern zurückstoßen, doch das Heck geriet nur noch tiefer in den Schlick. Ihm blieb nur eins. Er legte die Ruder weg und zog Schuhe und Hosen aus; die Socken behielt er an. Dann steckte er die Beine ins Wasser. Er fühlte das Schlammige des Bodens noch durch die Socken, deshalb verlagerte er sein Gewicht vom Boot auf die Beine. Seine Füße sanken in den Schlick ein. Kitteridge geriet kurz in Panik, aus Angst, er könnte auf Treibsand geraten sein. Als ihm der Dreck bis an die Oberschenkel reichte, wurde der Boden fester. Nun blieb er ein paar Sekunden lang ruhig stehen.
Er hasste das Saugen des Schlamms an seinen Füßen, hasste den Gedanken an alles, was für ihn unsichtbar im Wasser verborgen liegen mochte. Doch half ihm dies auch nicht weiter. Also griff er nach dem Heckwerk des Boots, hievte es empor. Der Propeller löste sich aus dem Morast. Kitteridge drehte sich zur Seite und ließ das Boot wieder aufs Wasser und probierte - die Spitze des Außenbordmotors berührte noch immer Grund. Wenn er einstiege, säße das kleine Skiff gleich wieder fest. Er schob es etwa einen Meter weiter, bis er überzeugt war, dass es auch mit seinem Gewicht wieder frei schwimmen könne.
Dann kletterte er ins Boot, ließ jedoch die nackten Beine seitlich heraushängen, um mit der Hand den Schlamm abzuwaschen. Dabei berührte er etwas glitschig Festes, riß die Hand instinktiv zurück und zog die Beine an. Am linken Oberschenkel hing ein Blutegel.
Der Egel war etwa acht Zentimeter lang und sah aus wie eine Wegschnecke, nur dass der Kopf nicht aufgerichtet, sondern an sein Bein gepreßt war. Voller Abscheu riß er sich das eklige Geschöpf vom Bein und schleuderte es über Bord.
An der Stelle, wo der Egel sich an seinem Bein hatte festbeißen wollen, befand sich ein knallroter Striemen. Kitteridge untersuchte das andere Bein und zog sich die Hosen rasch wieder an und die Socken aus, die er ins hintere Boot fallen ließ. Er ruderte das Boot in
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