In den Klauen des Bösen
zurückgekommen?«
Amelie schüttelte den Kopf - als ob sie froh wäre, wenn George nie wiederkäme, dachte Kitteridge.
»Sie glaub’n mir wohl nich’?« fragte Amelie. »Sie mein’, ich lüg’, un’ es war’ George, den ich gestern abend im Moor gefund’n hab’.«
Kitteridge betrachtete sie nur schweigend.
»Na schön«, sagte sie. »Komm’ Sie ‘rein. Ich hab ‘n Bild von George. Sag’n Sie mir, ob’s derselbe Mann is’.«
Kitteridge kletterte auf die Veranda und folgte Amelie in die Hütte, die, sofern das überhaupt möglich war, drinnen noch heruntergekommener zu sein schien als draußen. Da stand ein durchgesessenes Sofa mit einer abgenutzten Decke und ein kaputter Sessel. In einer Ecke stand ein brüchiger Tisch mit zwei weiteren Stühlen, in einer anderen ein Holzofen, daneben ein behelfsmäßiger Tisch. Durch eine offenstehende Tür sah er einen weiteren Raum: ein Bettgestell mit durchhängender Matratze. Ein Bad war nirgends zu sehen. Der Polizeichef verbiß sich eine Frage: Hier draußen im Moor gab es kein fließendes Wasser. Durch ein glasloses Fenster sah er ein Nebengebäude, an dem Fallen aufgestapelt waren. Also hatte George sich sein bißchen Geld wenigstens ehrlich verdient.
Kitteridge war über die Ärmlichkeit des Anwesens entsetzt. Er drehte sich zu Amelie um. Sie hielt ihm ein Foto entgegen. Er nahm es auf die Veranda mit nach draußen, um es bei Tageslicht zu studieren.
Es war das Foto von einem Paar. Die Frau war eindeutig Amelie Coulton. Der Mann neben ihr, ein schlanker, schlaksiger Typ, mindestens dreißig Zentimeter größer, hatte das typische Gesicht der Moorbewohner, ausdruckslose Augen und Bartstoppeln. Im einen Armwinkel hielt er ein Gewehr. Der andere Arm lag besitzerisch um Amelies Schultern. Kitteridge las den Schnörkel auf der Rückseite: »Hochzeitstag - George und ich«. Das Datum lag sieben Monate zurück.
Selbst bei Berücksichtigung des frühzeitigen Alterns der Sumpfratten konnte George Coulton höchstens fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein.
Der Mann im Leichenschauhaus war mindestens achtzig.
Kitteridge reichte Amelie, die ihm gefolgt war, das Bild wortlos zurück. Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, als sie plötzlich blaß wurde. Ihre Augen weiteten sich. Sie fasste sich an den Bauch und sank auf den Schaukelstuhl.
»Oh je«, stöhnte sie, als der ruckartige Schmerz nachließ. »Ich glaub’, es is’ soweit.«
Kitteridge begriff sofort. »War das die erste Wehe?«
Amelie nickte. »Ich hab’ George gesagt, es müsst bald soweit sein«, meinte sie bitter.
Ein richtiges Schwein, dachte Kitteridge - falls der Mann, den sie am Abend zuvor aus dem Moor geholt hatten, tatsächlich George Coulton war, wüsste er jetzt immerhin ein Mordmotiv. Nach dem Gespräch mit Amelie hielt er einen solchen Mord eventuell sogar für verständlich. Amelie gegenüber ließ er sich das allerdings nicht anmerken. »Sie kommen am besten mit in die Stadt. Haben Sie den Koffer schon gepackt?«
Amelie stieß ein dünnes, hohes Lachen aus. »Ein’ Koffer? So ‘was gibt’s bei uns nich’, und wenn ich ein’ hätt’, hätt’ ich nix zum Reintun. Alles, was ich hab, is’...«
Eine neue Wehe verschlug ihr die Sprache. Anschließend rappelte sie sich hoch.
Kitteridge half ihr die Leiter hinunter in sein Boot und setzte sie an den Bug, ließ den Motor an und stieß ab. Beim Einbiegen in das Bayou wandte er sich ein letztesmal nach dem Haus um. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie nichts mitnehmen wollen?« fragte er.
Sie lachte noch einmal ihr verkrampftes Lachen. »Was denn? Ich hab’ ja nich’ ‘mal ‘ne Tasch’. Hier draußen hat keiner was. Man wird gebor’n, man lebt ‘ne Weil’, un’ man stirbt.« Ihre Stimme wurde bitter. »Manchmal scheint’s, dass die Leut’ Glück hab’n, die früh sterb’n.«
Als die Hütte aus dem Blickfeld entschwand, hob Amelie den Kopf. Ihre Augen wurden zum erstenmal lebendig. Sie muss hübsch gewesen sein, als George sie heiraten wollte, dachte Kitteridge - falls er sie tatsächlich geheiratet hatte.
Amelie lachte auf. Jetzt war das Lachen echt. »Sie hab’n sich verirrt, was?«
Kitteridge wurde rot und nickte. »Wieso wissen Sie das?«
»Leicht«, sagte sie. »Sie fahr’n in die falsche Richtung. Villejeune liegt dahinten.« Sie deutete über Kitteridges Schulter. »Und gar nich’ weit. Vielleicht ‘ne halbe Meile.« Er drehte das Boot. Sie fuhr fort: »Nehm’ Sie den breit’n Bayou vor Ihnen un’
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