In den Klauen des Bösen
Zähnen hielt. Seine Kaninchenaugen wurden ganz groß, als er im Boot Kitteridge bemerkte. Er versuchte davonzukommen, doch zu spät.
Der Polizeichef hatte ihn an seinen langen Haaren gepackt und zog ihn herum, so dass er sein Gleichgewicht verlor. Der Junge fiel um sich schlagend zurück ins Wasser.
»Ich hab’ ihn!« schrie Tim überflüssigerweise - Judd Duval hatte den Motor seines Boots bereits angelassen und schnellte über die Lagune. Ein paar Minuten später saß Jonas mit auf dem Rücken gefesselten Händen im Boot des Deputy und sah Tim Kitteridge grimmig an.
»Wieso wussten Sie, dass er da war?« fragte Duval, als er das Tau des Boots von Jonas an der Hecklampe des eigenen festmachte.
»Hab’ ich früher mal im Kino gesehen«, meinte Kitteridge schmunzelnd. »Das Wasser ist so trüb, man sieht keine fünf Zentimeter tief. Wenn man sich also verstecken will, nimmt man einfach ein Büschel Grashalme zwischen die Zähne und taucht unter. Da wird man sogar aus einem halben Meter Entfernung nicht gesehen - falls jemand vorbeikommt.« Er musterte Duval kritisch. »Hätten Sie eigentlich wissen müssen.«
Duval schob das Kinn vor, sagte aber nichts. Als der Deputy den Motor anließ und in die schmalen Kanäle in Richtung Villejeune steuerte, nahm Kitteridge sich Jonas vor. »Warum hast du dich vor uns versteckt, Junge?«
Jonas schien mit seinen platten, ausdruckslosen Augen durch ihn hindurchzusehen und gab keine Antwort.
»Na gut«, seufzte Kitteridge. »Dann eben nicht. Aber ich schwör dir: In der Stadt wirst du reden. Da gibt es viele Dinge, die ich von dir wissen will, Jonas, und ich kriege sie auch aus dir heraus.«
Den Blick, den Jonas und Judd Duval tauschten, bemerkte er nicht.
11
Kelly verließ Arlette Delongs Cafe, wo sie den halben Morgen bei drei Colas mit dem Anschauen von Zeitschriften aus dem Regal beim Eingang verbracht hatte. Als sie spürte, dass die Frau hinter der Theke - eine Frau in mittlerem Alter mit gebleichtem Haar in Wabenfrisur; Kelly nahm an, dass sie Arlette war - sie auffordern würde, die Zeitschriften entweder zu kaufen oder ins Regal zurückzustellen, legte sie das Geld für die Colas auf den Tisch und ging in die Morgenhitze nach draußen. Was nun?
Heim wollte sie auf keinen Fall. Da müsste sie sich nur die Vorwürfe der Mutter anhören.
Die Vorwürfe waren allerdings nicht unberechtigt - in der vergangenen Nacht hatte sie sich aus dem Haus geschlichen; und sie war ertappt worden.
Aber das war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr nichts Besonderes; und im Grunde war nie etwas schiefgegangen. Die Eltern hatten ihr gedroht, sie würden es nicht mehr dulden, hatten es aber immer wieder hingenommen.
Das Besondere lag diesmal darin, dass sie die Ereignisse der vergangenen Nacht nicht begreifen konnte. Ihre Erinnerungen beim Aufwachen waren dermaßen seltsam gewesen, dass sie das Ganze als einen Traum abhaken musste.
Sie war mit Michael ins Sumpfgebiet gefahren - soviel war klar. Alles Weitere war verschwommen. Da hatte eine Art von Zeremonie stattgefunden - fast wie ein Gottesdienst. Michael und sie hatten daran teilgenommen. Sie waren zu einem Altar geführt worden, und ein Priester, ganz in Schwarz, hatte sie angesprochen.
Anschließend hatte er sie dann auf eine Bahre gelegt und ihr eine Nadel in die Brust gestochen; es hatte aber nicht weh getan.
Eben deshalb hatte sie beim Aufwachen zuerst alles nur für einen Traum gehalten, bis ihr im Spiegel der Stich in ihrer Brust aufgefallen war - ein roter Fleck inmitten des winzigen Kreises einer Stichwunde, die sie beim Anfassen spürte. Und seither wollte sie Michael finden und fragen, ob er sich an die nächtlichen Ereignisse erinnern konnte und ebenfalls einen komischen roten Fleck auf der Brust hatte.
Doch im Grunde war die ganze Sache verrückt. Es könnte sich, wie sie sich immer wieder klarmachte, bei dem roten Flecken genausogut um einen Mückenstich handeln, und bei allem anderen wirklich bloß um einen Traum. Oder eine Halluzination.
Verlor sie etwa wieder den Verstand?
Wenn sie sich doch nur nicht mit ihrer Mutter gestritten hätte! Warum hatte sie sich wegen des Aus-dem-Haus-Schleichens nicht einfach entschuldigt? Dann könnte sie ihr jetzt vielleicht vom Traum und von ihrer Angst erzählen.
Mit der Mutter hatte sie aber noch nie reden können.
Mit niemandem.
Sie war sich immer als Außenseiterin vorgekommen, die zu keinem Menschen Kontakt finden konnte.
Bis sie gestern Michael begegnet war.
Und
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