In den Klauen des Bösen
ins Gesicht. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Warum nicht?« fragte Mary mit Tränen in den Augen. »Wissen Sie denn, was es heißt, ein Kind großzuziehen, das einem fremd bleibt? Wenn etwas schief geht - und mit Kelly schien eigentlich fast immer etwas schiefzugehen -, fragt man sich zuerst, ob man selbst etwas falsch macht. Und später fragt man sich, ob es mit der Herkunft des Kindes zu tun haben könnte, mit seinen Genen.« Sie lachte gequält. »Aber Sie als Mutter von zwei vollkommenen, eigenen Kindern können das bestimmt nicht verstehen, nicht wahr?« Als sie Barbaras Erschrecken bemerkte, geriet sie ins Stocken. »Barbara? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Barbara nickte beklommen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. »Wir haben Glück gehabt«, sagte sie leise. »Mit Michael hat es keine großen Probleme gegeben. Er ist zwar immer ein Einzelgänger gewesen, aber...«
Mary fiel fast das Kinn herunter. »Michael ist nicht Ihr eigener Sohn?«
Barbara musste schlucken. »Ich... Es gab damals ein Problem. Mein erstes Kind war eine Totgeburt.« Sie sagte es mit kaum hörbarer Stimme. »Wir haben Michael vor meiner Entlassung aus dem Krankenhaus adoptiert.«
Mary legte die Arme um sie und drückte sie kurz an sich. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Das hab’ ich ja nicht gewusst.« Sie trat einen Schritt zurück. »Wir sind vielleicht Zwei: Kennen uns noch keinen Tag und liegen uns bereits weinend in den Armen.«
Die beiden Frauen machten sich wieder an die Arbeit; Barbara erzählte spontan vom Verlust ihres Kindes. »Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht«, sagte sie. »Bis letzte Woche nicht: Eine Frau aus dem Moor hatte eine Totgeburt und verlor fast den Verstand.« Sie berichtete von dem Anruf aus der Klinik, als Jolene Mayhew sie über den Tod des Babys und die Reaktion Amelie Coultons verständigt hatte. »Hat Kelly Ihnen denn nichts erzählt?«
Mary schüttelte den Kopf. »Kelly erzählt meinem Mann und mir leider so gut wie nichts. Sie kommt und geht, sie ißt und schläft bei uns. Aber wenn ich mit ihr zu sprechen versuche, wehrt sie jedesmal ab.«
»Das kenne ich«, sagte Barbara. »Mit Michael ist’s manchmal ähnlich. Der behält auch alles für sich.« Als sie aus dem Fenster schaute, bereitete Michael gerade einen Schuss auf Kellys Krocket-Ball vor, und Jenny tat alles Erdenkliche, um seine Konzentration zu stören. »So war’s jedenfalls, bis Kelly nach Villejeune gekommen ist. Ich habe den Eindruck, dass sie seine erste Freundin werden könnte.«
»Also, mir wär’s nur recht«, meinte Mary. »Ich weiß nicht, was geschehen ist, doch seit unserer Ankunft wirkt Kelly irgendwie glücklicher. Sie spricht zwar noch immer kaum mit uns, aber sie bleibt wenigstens nicht mehr ganze Nächte lang weg.«
Sie schauten den Kindern ein Weilchen zu. Kelly musste ihren Blick wohl gespürt haben; sie winkte nämlich herüber. Mary winkte zurück. Dann legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. »Also, wenn das nicht...« sagte sie.
Barbara betrachtete sie mit forschendem Blick.
»Als Kelly eben hochschaute, sah sie genauso aus wie Sie!«
Barbara fröstelte. Ihr fiel wieder ein, was Jenny vor ein paar Tagen gesagt hatte. Sie sieht aus wie Kusine Tisha! Und schon kam ihr wieder die Fantasie über ihre tote Tochter, dazu die Erinnerung an die merkwürdige Geschichte, die ihr Jolene Mayhew erzählt hatte: Amelie sei nicht davon abzubringen, dass ihr Baby lebe und man es ihr bloß weggenommen habe! Genauso hatte Barbara selbst empfunden, als sie vor sechzehn Jahren ihr kleines Mädchen verloren hatte. Sie hatte den Verlust einfach nicht akzeptiert, bis Dr. Phillips ihr Michael in die Arme gelegt und der Kleine die große Leere in ihrem Herzen gefüllt hatte. Nun kehrten auch diese Erinnerungen zurück; ohne darüber nachgedacht zu haben, stellte sie Mary eine Frage.
»Mary - woher haben Sie Kelly bekommen?«
Mehr als die Frage verunsicherte Mary der Ton. Sie begriff, was Barbara durch den Sinn ging.
»Nein, Barb«, sagte sie leise. »Das habe ich Ihnen wirklich nicht in den Kopf setzen wollen. Ich halte die Ähnlichkeit für einen überraschenden Zufall.«
Doch so sehr Barbara sich auch bemühte, den Gedanken zu verdrängen, sie konnte ihren Blick an diesem Abend nicht mehr von Kelly lösen.
Die Ähnlichkeit zwischen Kelly Andersen und ihrer Nichte kam ihr immer auffallender vor.
Judd Duval erhob sich von seinem Sessel. Seit Anbruch der Dunkelheit vor rund zwei
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