In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Gesicht.
Ich fuhr mit der Zungenspitze über meine Unterlippe. Ihr Speichel schmeckte nach Nikotin und Weiblichkeit.
Nun, ich hatte den Wink verstanden. Ich mochte stets Schwierigkeiten haben, mich in konventionellen Lebenslagen zurechtzufinden, doch ich hatte weit weniger Probleme damit, mich schnell neuen, unkonventionellen Situationen anzupassen. Und ich wollte heute noch kiffen.
Von nun an wurde ich tiefer und tiefer in Evelyns Welt hineingezogen. Sie war wie eine Zwiebel, die immer neue Schichten aufwies, die man abpellen konnte, um zu sehen, was sich darunter verbarg.
Unser nächstes Treffen fand in ihrer kleinen Wohnung in Ottensen statt. An den Wänden hingen Plakate alter Filmklassiker wie Metropolis oder Shanghai Express , lose vermengt mit Fetisch-Postern, und im Zentrum all dessen thronte die Mutter all dieser postmodernen Ikonenverehrung: David Bowie.
»Ich war schon immer so«, erklärte sie mir, während sie die Füße auf den niedrigen Wohnzimmertisch legte. »Je mehr mir Gewalt verhasst wurde, desto aufregender fand ich es.« Sie stellte das Glas mit dem Gin Tonic beiseite und legte ein wuchtiges Fotoalbum auf ihre Oberschenkel. Das werden hoffentlich keine Urlaubsfotos sein, dachte ich instinktiv. Ich verabscheute Urlaubsfotos mehr als alles auf dieser Welt.
Ich sollte nicht enttäuscht werden. Das Album war Seite um Seite gefüllt mit Polaroid-Fotos, die sich verdächtig glichen. Das photographische Objekt der Begierde in dieser Sammlung war ausschließlich Evelyns Hintern. Die meisten Bilder waren handschriftlich mit einem Datum versehen. Es war zumeist eine Serie von zehn oder fünfzehn Schnappschüssen, die stets Datum trugen. Dazwischen lagen Wochen, oder auch Monate.
»Das zeigst du wohl nicht jedem,« dachte ich laut, bar jeglicher Ironie.
Sie blickte hoch und sah mir in die Augen — so verletzlich sollte ich sie nie wieder sehen. Sie schüttelte schweigend den Kopf.
Wir schmökerten Gesicht an Gesicht in ihrem Album, während sie mir alles detailliert erklärte und mich mit dieser faszinierenden Topographie aus Striemen, Prellungen und roten Flecken bekanntmachte. Sie deutete mit dem Finger auf die einzelnen Rillen und Stellen. Die langen dünnen Striemenrippen, herbeigeführt von Gerten oder Ruten, die kreuz und quer verlaufenden, breiten, eckigen Streifen, geschaffen von einer Tawse oder einem Strap , und schließlich im Hintergrund die über große Flächen verteilten Gebiete der neunschwänzigen Katze.
»Das war Oliver«, sagte sie und deutete auf die Bilder. »Das ist Andy und das ist von David. Der hat fast nur den Rohrstock verwendet. Darum sieht das so rabiat aus.«
Auf den Fotos waren natürlich nicht die besagten Kerle zu sehen, sondern immer Evelyns rundes Hinterteil. Nur die Landschaftsmaler hatten sich geändert. Die Motive blieben dieselben.
»Und das hier ist Rebecca«, erklärte Evelyn weiter. »Die einzige Domina, mit der ich bis jetzt Sitzungen gemacht habe.«
Diese Bilder zeugten von einer deutlich herberen Behandlung.
»Das war eine ziemliche Challenge. Aber sie war mir zu viel SM. Zuviel Dungeons & Dragons . Ich bin mehr für das schlichte und schnelle. In einem Käfig eingesperrt langweile ich mich bald. Spanking bringt mich da rascher an jenen Punkt, den ich suche.«
»Und was ist dieser Punkt?« fragte ich sie. Es war die Frage nach ihren Motiven. Die Frage nach dem warum .
Sie blickte von den Seiten des Fotoalbums hoch.
»Ich fühle mich nicht betäubt. Es macht mich vollkommen wach«, lautete ihre Antwort. »Ich lebe nur in zwei Augenblicken meines Lebens. Wenn ich tanze und während man mir den Hintern versohlt.«
Der Gedanke, dass sie einen Knall hatte, war mir selbstverständlich in den Sinn gekommen. Doch ich hatte mich nicht ein Leben lang davon überzeugt, dass diese Zivilisation vollständig geisteskrank ist, um nun dieses Mädchen dafür zu verurteilen, dass sie neben mir saß und ihr Seelenleben, verborgen in einem roten, kitschigen Bilderalbum, an sich drückte.
Die Wahrheit über Evelyn war, dass sie vorbildlich mit ihrem inneren Wesen umging und ihre eigenen, mutigen Wege suchte, das Leben als lebenswert zu empfinden. Wir Kerle, die den Einzug in ihr Album hielten, verdienten es im Grunde nicht, dieses seltsame, mythische Wesen vom Schicksal ausgehändigt zu bekommen — doch sie hatte keine Wahl. Wir waren das, was in den Seitenstraßen des menschlichen Jahrmarkts zu bekommen war. Wir waren die Alternative zu einer unaufhörlichen,
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