Selbstbestimmung, war sie an der extremsten denkbaren Position angelangt. Sie war entweder hoffnungslos neurotisch oder die emanzipierteste Frau im Sonnensystem.
Ich mochte mir insgeheim diese Frage stellen: Machte ich irgendwelche »Dinge« noch schlimmer, in dem ich ihren Wünschen entsprach? Oder war es im Gegenteil eine therapeutische Wirkung, die von unseren Sitzungen ausging? Fühlte sie sich hinterher besser oder schlechter? Doch all diese Fragen schienen sich in Wirklichkeit um mein eigenes Seelenheil zu drehen, wenn sie auch so formuliert wären, als ginge es um Evelyn. Und so ersparte ich ihr das fürsorgliche — und in Wirklichkeit egoistische — Psychogelaber und vertraute ihr. Ließ sie das Maß definieren.
Ihre Experimentierfreude ging manchmal so weit, dass sie mich mitten am Tag anrief und mir vorschlug, es mal richtig puritanisch auszuprobieren. Sie kam eine halbe Stunde später vorbei, sagte kein Wort, zog ihren Rock hoch und ihren Slip bis zu den Knien herunter und beugte sich über die Rückenlehne eines Stuhls. Nachdem ihr Hintern versohlt war, wischte sie sich eine kleine Träne weg, zog das Höschen wieder hoch und verschwand wortlos.
Die Tränen, die manchmal kamen und gingen, waren echt und schienen ihr auch wichtig zu sein. Doch sie überstiegen mein Begriffsvermögen. Ich war nur die spankende Maschine, die Evelyn brauchte. Und ich fand das alles faszinierend. Die Frage, ob ich nun ein Fake war oder nicht, stellte ich mir immer weniger. Sie blieb aber dezent im Hintergrund. Denn schließlich hatte ich vor meiner Begegnung mit Evelyn niemals über SM nachgedacht. Wäre ich echt, hätte ich sicherlich schon vor Jahren entsprechende Anlagen in mir entdecken müssen. Dann hätte ich bereits als Kind fasziniert den Sadomasochismus bei Karl May und in den DC-Comics erkennen müssen. Und gerade beim letzteren wurde mir erst jetzt bewusst, wie ausgeprägt die Erotik des Zwangs in ihrer unterschwelligen Weise dort in Wirklichkeit war. Ich hatte es aber nie gesehen.
Fragment: Der freie Wille
Bin ich frei, oder werde ich gelenkt von unerkannten Agitatoren, mit einem Zweck, der sich mir nicht offenbart und einem Ziel, das ich nicht kenne? Gibt es den großen Demiurg, der Billard spielt, während ich nur eine von vielen rollenden Kugeln bin?
Meine Geschichte ist eine Reise gen Freiheit. Doch um Freiheit zu erlangen, muss ich die Fesseln durchschauen. Ich muss in die Wunden starren und erkennen, dass das Gesehene ich bin und niemand sonst.
Die Schamanen sind tot. Wir haben sie gegen gierige Priester eingetauscht, sie vertrieben und ihre Hütten dem Boden gleichgemacht, um statt dessen Kaufhäuser zu bauen. Sie waren die letzten, die bereit waren, unseren Schmerz auf sich zu nehmen und ihn damit zu lindern.
Alle anderen, die sich dafür anbieten, sind Lügner und Schacherer, mit dem einzigen Ziel, uns ihre nutzlosen Produkte anzudrehen.
Ich habe keine Antworten, die wie Kochrezepte anmuten. Keine Erfolgstherapien. Du willst Esoterik, schreib an
[email protected] . Er wird genauso wenig antworten, wie Gott.
Es gibt Elektronen und Photonen, die mehr Willensfreiheit haben, als die meisten Menschen. Sie haben davon zwar nicht viel, doch das Quentchen Freiheit, das ein subatomares Teilchen besitzt, ist dafür unverfälscht und unmittelbar. Wie oft sehnt sich der Homo oeconomicus cretinus nach nur einem Augenblick von dieser Reinheit. Die immensen Möglichkeiten, die uns umgeben, sind wie ein mehrfaches Echo unserer Sehnsüchte, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. Wir sind umwoben von allem, was hätte sein können, was hätte sein sollen, was wäre wenn...
Bar aller Beschönigung: wir tun, was man uns sagt. Wir essen dort, wo es am grellsten ist und hören das, was man uns vorschreibt. Wir besitzen nicht einmal die Würde eines schwarzen oder weißen Steinchens auf einem Go-Spielbrett oder die Grazie eine Schachfigur. Wir sind wie abgestumpfte Kühe, die mit gemahlenen Leichenresten gefüttert werden, während sie ermattet auf den vertrauten Trog starren. Um uns herum wird grässlicher Lärm verbreitet, der meistens nichts zu tun hat, mit den stummen Bildern von M-TV, die aus den aufgehängten Monitoren oszillieren, als wollte eine höhere Macht herausfinden, wer von uns den ersten epileptischen Anfall bekommt. Wir überreichen brav unser Geld den Bankberatern, nur weil irgendein Krawattenlügner mit einem Filzstift einige Prozentzeichen und Ausrufezeichen auf ein Flip-Chart-Blatt schrieb