In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
verbrennenden Sehnsucht.
»Wenn ich es lange nicht kriege, mache ich es mir selbst«, erklärte sie mir. »Ich habe mir schon als Kind im Wald eine Weidenrute abgeschnitten und heimlich versucht, mich damit zu züchtigen.«
Während sie es sagte, wurde mir eins sofort klar. Sollte ich mich mit ihr auf dieses Spiel aus Unterwerfung und Schmerz einlassen, stand eindeutig fest, dass sie hierbei ihr innerstes Wesen offenlegte, während ich mir dagegen lediglich eine Maske aufsetzte. Beides war, wie ich fand, ein legitimer Weg, mit dieser schrägen Welt umzugehen. Aber es bedeutete auch, dass wir beide dieselben Handlungen, die uns verbinden sollten, sehr unterschiedlich empfinden würden.
»Aber es ist nie das selbe«, fuhr sie mit leiser Stimme fort. Wir erreichten die letzte beklebte Seite des Albums. Die letzten Auf nahmen waren mit einem Datum versehen, das weniger als zwei Monate zurücklag.
»Robert«, sagte sie ausdruckslos.
Die restlichen Seiten waren leer. Diese Leere musste auf Evelyn eine provozierende und herausfordernde Wirkung haben. Ich dachte plötzlich an diese Leute, die in alten Filmen an die Wände ihrer psychiatrischen Zellen lauter kleine Ziffern kritzelten. Daran, wie sehr es mich quälte, eine fast komplette Reihe aus Comics zu besitzen, wissend, dass Nummer 64, 88 und 127 fehlten. Das konnte einen schon fertigmachen.
Evelyn sah mich an. Ihr Blick riss mich aus den Gedanken.
»Magst du mal ein Paddle in der Hand halten?« fragte sie mich.
2.04 Philologie
Wir wurden gute Freunde. Oder etwas in der Art. Sie besuchte mich regelmäßig und wir tranken Tee, Kaffee oder Gin Tonic und quatschten. Wir sprachen meistens über Sex oder über Comics oder über die Menschen auf der Straße. Und wir sprachen viel über SM. Auf diesem Gebiet war sie erstaunlich belesen und mitteilsam.
Ein berauschender Wesenszug an Evelyn war ihre Fähigkeit immer das zu benennen, worauf sie Lust hatte. Sie drückte am Ende des Satzes die Zigarette aus und sagte: »Magst du mich mal spanken?« Oder an einem anderen Tag: »Macht´s dir was aus, wenn ich mich nackt ausziehe? Aber erzähl weiter...« — »Magst du mich mal draußen auf dem Balkon verhauen? Ich möchte dabei die nächtliche Stadt sehen.«
Als wir mal eines Nachts von einer langweiligen Party geflohen waren und beim Kerzenlicht auf meinem Sofa saßen, jeweils mit einem Stoli On The Rocks in der Hand, fragte ich sie, ob es ihr denn nichts ausmachte, dass ich eigentlich ein Anfänger war. Ein Greenhorn. Ein Niemand ohne Erfahrung.
Sie hatte inzwischen ihre Docs ausgezogen und die Füße in typischer, schamloser Manier auf den Konferenztisch gelegt. Sie lachte nur und meinte, ich sei ja inzwischen kein so großer Anfänger mehr und das in der SM-Szene, die nicht weniger verlogen sei als jede andere Szene, kein Dom zugibt, etwas zum ersten Mal zu machen, da keine Sub mit jemanden an einer Sitzung teilnehmen möchte, der eigentlich kein echter Dom ist. Wenn man es noch nie gemacht hat, ist man auch nicht echt. Denn das Gefühl, von jemandem mit Erfahrung beherrscht zu werden, ist ein Teil des Kicks. Sich einem Anfänger auszuliefern, sei für viele eher abturnend. Es ist eben wie im echten Leben. Geld gibt man nur demjenigen, der glaubwürdig ist. Und für glaubwürdig hält man nur denjenigen, der bereits Geld hat. Und Glaubwürdigkeit ist die Essenz von SM.
Ich wog nachdenklich meinen betrunkenen Kopf.
»Das ist doch ziemlich verdreht, oder?« meinte ich. »Wenn ich also keine Erfahrungen habe und dennoch unter die Leute gehe und so tue, als hätte ich Erfahrungen, bin ich ein Fake, oder? Wenn ich damit aber ehrlich umgehe und meinem Gegenüber sage, dass ich noch nicht Bescheid weiß, dann bin ich uninteressant, weil ich keine Dominanz ausstrahle. Also erwartet man von mir, dass ich mich wie ein Fake benehme. Nur muss ich das so gut machen, dass ich als Anfänger nicht durchschaut werde, bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ich kein Fake mehr bin.«
Evelyn nickte nachdenklich. »Die Menschen wollen belogen werden und schreien gleichzeitig nach Ehrlichkeit. Aber ein Anfänger ist nicht unbedingt ein Fake. Ein Fake ist jemand, der das nicht im Herzen fühlt, sondern einfach nur irgendeine Pornophantasie ausleben möchte. Ob er dabei eine Gerte in der Hand hält, oder den eigenen Schwanz, ist ihm egal. Außerdem ist das alles nur Szene. Szene. Szene. Szene.« Sie dirigierte mit dem Finger in der Luft. »Immer nur Szene... Ich hasse Szenen...«
Sie
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