In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
schloss ihre Augen und wirkte müde.
»Ich finde es besser zu tanzen...«, sprach sie leise. Die Hand mit dem leeren Glas rutschte langsam leblos von ihrem Oberschenkel herab. »Für den Tanz habe ich mich entschieden« , hatte sie mir einmal erzählt. »Die Schmerzen haben sich für mich entschieden.«
»Leg bitte deine Hand auf meine Möse«, flüsterte sie. »Fester...«
Sie seufzte und verdrehte dem Kopf nach hinten. Dann sah sie zur Seite, zu mir und sagte leise: »Ich fühle das Leben am meisten...« Sie stöhnte wieder und sammelte ihre Worte. »...wenn ich das Gefühl habe, ich könnte einfach sterben und es wäre OK.«
»So wie jetzt?« fragte ich sie.
»Vollkommen...«, flüsterte sie.
Sie verlieh ihrer Passion eine geistige Dimension, die ich bei den anderen nie feststellte. Auf den Fetisch-Parties wirkten viele (mich eingeschlossen) wie Halbwüchsige, die für sich Disneyland entdeckt hatten, ohne das Interesse, aus SM eine zu tiefe Reise nach innen zu machen. Sie wollten Spaß haben — auf ihre eigene Art. Für sie war SM eine Kunstform. Eine intime Möglichkeit, als ein dreidimensionales Kunstobjekt zu existieren. Was sie taten, war im Grunde das Reenactment einer Epoche, die es niemals gegeben hatte.
Evelyn hingegen baute mit ihrer Sinnlichkeit ein dunkles Kloster in den Bergen.
Sie brachte mir fast jede Woche etwas Neues zum Lesen mit. Publikationen über den mittelalterlichen Flagellantismus, oder die Schriften von Elise Sutton. Mal den autobiographischen Roman Le lien von Vanessa Duriès, die mit 21 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Oder den Klassiker Die Geschichte der O. von Pauline Réage. Innerhalb von Wochen verschlang ich jene Texte, die Alice Kerr-Sutherland zugeschrieben werden und das berüchtigte Essay »Violence In The Garden« von Polly Peachum. Verglichen mit den etwas trockenen Büchern in meiner Wohnung, war das eine sehr erfrischende Lektüre, die ich immer prickelnder fand.
Mein Herz lachte, als sie eines Tages auch einen Stapel Comics mitbrachte. Wir taten unsere Köpfe zusammen und lasen kichernd The Convent of Hell von Noe Barreiro und die wunderbaren und unübertrefflichen Leiden der jungen Janice von Erich von Gotha.
Etwas an ihr erinnerte mich an Manzio. Die beiden hätten ein gutes Ehepaar abgegeben, und das Vermischen ihrer Bibliotheken hätte die RAF wie ein protestantisches Kaffeekränzchen erscheinen lassen.
Auch Evelyn trat in mein Leben, mit der nicht abgesprochenen Aufgabe, mich auf Bücher und Gedanken jenseits des ausgetretenen Pfads aufmerksam zu machen. Sie tat es ohne eine Spur von Eitelkeit. Sie war nie überrascht, wenn ich über ein Buch sagte, ich würde es nicht kennen. Es kam nie ein hochnäsiges »Wie? Das kennst du nicht?«. Ich fand einen Weg hinter Evelyns raue Schale, vorbei an ihrem melancholischen Gemüt, und fand in ihr eine interessante Freundin. Eine etwas seltsame Freundin, aber das machte sie in meinem Fall perfekt.
Evelyn war das extravagante, auf den zweiten Blick schöne Mädchen, das optimal zu meiner nicht minder verschrobenen Persönlichkeit passte. Gemeinsam, als Paar, hätten wir vermutlich Hand in Hand den Sprung von der Brücke gewagt. So war es vielleicht besser, dass unser Umgang nur freundschaftlich war und wir weiteren Komplikationen aus dem Weg gingen. Ich fragte sie nie über ihr Privatleben aus oder ihre Vergangenheit. Sie mochte neben mir noch andere Männer haben, ich würde es nie erfahren. Außer noch jemand würde sie verhauen. Dann hätten sich seine und meine Straßen auf der blassen Leinwand ihres faszinierenden Hinterns gekreuzt. Auf diesem Podium gab es keine Lügen und vorgetäuschte Orgasmen.
Die magellanische Gier nach Pein und Erniedrigung war ihre große Reise über den Ozean der Selbstfindung, fort von den Gestaden des Kleinbürgertums. Einige hätten sie vermutlich als einen Schandfleck der Emanzipation, als eine Krebszelle des Feminismus eingestuft. Kleinbürger und Feministinnen hätten sie mit derselben Freude in einem Käfig durch die Stadt gezerrt, um sie anschließend zu verbrennen. Doch die meisten hätten sie wohl gerne in psychiatrischer Obhut gesehen. Ich sah sie hingegen mehr und mehr auf einem Sockel, in meinem Pantheon. Sie war mein Stargirl .
Ob Evelyn in Wirklichkeit tief im dunklen Verlies ihrer Psyche um Hilfe rief, konnte ich nicht sagen. Und es zu thematisieren schien die Gefahr zu bergen, den Zauber zu brechen. In dem jahrhundertealten Kampf der Frauen um
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