In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
richtig ernst. Die Internetcafés waren damals ein sehr neues Phänomen, und viele Leute kamen hierher, nur um kurz ihre Emails zu checken.
Der plastische Klang des Fernsehers mit seinen lästigen, vorlauten Werbeblöcken mischte sich auf eine recht befremdliche Art und Weise mit der etwas kitschigen New-Age-Musik, die aus den Lautsprechern drang und den eigentlichen Hintergrundsound für die Kundschaft bilden sollte.
Zu dieser Stunde war hier nicht viel los. Nur drei Touristen — zwei Männer und eine Frau — saßen einzeln an drei von den insgesamt zehn oder fünfzehn Stationen. Die Frau rauchte und starrte verbissen auf ihren Monitor, als ob dort der Bericht ihres Scheidungsanwalts stünde. Der überfüllte Aschenbecher zu ihrer Linken zeigte, dass sie schon länger hier war. Ich suchte mir ein Terminal aus, das in der Ecke stand und dessen Monitor von niemandem gesehen werden konnte. Ich bestellte mir einen Milchkaffee, was der Wirt mit einem abfälligen Zucken des Mundwinkels quittierte, da es ihn von Pamela Anderson und David Hasselhoff abhielt. Dann rief ich die Webseite von Yahoo! auf. Ich gab den Namen »Paul Lichtmann« ein und erhielt verschiedene Resultate. Doch die Webseiten hatten alle mit anderen Lichtmanns zu tun.
Bis auf eine Referenz. Möglicherweise. Es gab zwar keinen konkreten Anlass für mich, anzunehmen, dass es sich hier um meinen Paul Lichtmann handelte, doch ich hatte da so ein seltsames Gefühl. Die Seite bot die Programmübersicht einer kleineren Konferenz, die auf dem Campus der Universität in Heidelberg stattgefunden hatte. Neben einem recht kleinen Foto von einem Mann mit Krawatte und penibel nach Hinten gekämmten ergrauten Haare, stand die Beschreibung: Dr. Paul Lichtmann referierte zu dem Thema: das Anthropische Prinzip und der Tod. Mehr gab es da nicht, und so betrachtete ich noch einige Augenblicke den älteren Mann, der auf diesem Schnappschuss vermutlich gerade ins Publikum blickte, seitlich ans Rednerpult gelehnt.
Es mochte aber auch eine komplette Sackgasse sein. Ich gab lieber den Begriff »Lux Aeterna« in das Suchfeld ein, doch damit verhielt es sich ähnlich. Es tauchten Texte zur Musik von György Ligeti oder dem Spielfilm »2001« von Stanley Kubrick auf. Erst als ich »Kerygma« eintippte, rieselten aus dem Bildschirm zaghaft Antworten, die eindeutig auf die richtige Fährte führten.
Vor mir baute sich eine schlichte TXT-Datei auf, die aus den unkontrollierbaren Tiefen des Usenets stammte. Es handelte sich um ein Interview, das ein gewisser Björn Randow mit einem Mann namens Paul Laurentius geführt hatte. Das Interview war nie veröf fentlicht worden. Dass sich hinter diesem Namen Paul Lichtmann verbergen konnte, war mir sofort klar.
Der Autor dieses Postings versicherte, der seltsame Text, der ihm hier in die Hände gefallen war, sei nur ein kurzer Abriss und es gäbe auch eine ungekürzte Version, die mindestens fünfzig Seiten lang sei. Leider gab es keinen Verweis auf die lange Version, also begann ich die vorhandene Ausgabe des Texts zu lesen.
Der Inhalt war recht verwirrend. Laurentius erzählte Björn Randow, dass die Kerygma eine Geheimloge sei, die sich aus Kapitalisten und »vormals progressiven, doch heute reaktionären und konservativen Unternehmern und machthungrigen Spekulanten« zusammensetzte. Sie besitzen traditionell zahlreiche Aktien bei privaten Stromversorgern, ihre Spieler seien in alle erdenklichen internationalen Energie-Konzerne und Kartelle eingeschleust. Das Kerygma beteilige sich vorrangig am Bergbaugeschäft und am Bau von Kraftwerken. Sogar bei politisch konkurrierenden energetischen Modellen wie Kohle- und Atomkraftwerken mische das Kerygma auf beiden Seiten mit.
Der Sinn und Zweck der Organisation diente ausschließlich einem Ziel: eine andere Gruppe mit dem Namen Lux Æterna zu jagen und zu vernichten. Dass sich diese Kampagne nicht gerade in einem rechtstaatlichen Rahmen abspielte, war offensichtlich. Der Konflikt zwischen Lux Æterna und Kerygma wurde in dem vorliegenden Text nicht tiefer erläutert, bis auf die Bemerkung, dass die Lux Æterna einen Ritus, der als »Aschewerdung« bezeichnet wurde, praktizierte, und das Kerygma die Anwendung dieser Zeremonie für verdammenswert hielt und bereit war, einen jeden auszulöschen, der damit in Berührung kam. Wenigstens so hatte ich den besagten Absatz verstanden. Für einen unbescholtenen Außenstehenden musste dieser ganze Text wie eine amüsante, moderne Fabel wirken. Ein
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