In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
zu einfach für diese beschissene Welt, jemanden dafür zu hassen, dass er ein Drecksschwein ist. Es musste natürlich der Held des Tages sein, der sich meine Abscheu zuzog.
»Er besorgte mir die ersten Tanzauftritte, und zu Weihnachten schenkte er mir die Boombox zum Üben. Er stand mir bei, damit ich von den Drogen fernblieb. Er nannte mich seine einzige gute Tat ...«
Sie fing zu schluchzen an. Ich umarmte sie und wir schwiegen. Die Nacht schien um uns zu erstarren, gesäumt von den kalten Lichtsäulen der Straßenlampen. Die kühle Luft roch nach Industrie und Schmiermitteln. Das blasse Licht der Halogenscheinwerfer im Hafen ließ Evelyns Haut metallisch erscheinen. Vorbei an ihren Haaren sah ich die Hausfassaden von Altona und dachte daran, dass in jedem dieser unzähligen beleuchteten Fenstern sich ähnliche Geschichten, ähnliche Tragödien abspielten. Dankbarkeit, nur eine sanfte Berührung entfernt von Prostitution. Freizügigkeit, nur einen Hauch entfernt von Vergewaltigung. Alltägliche Selbstgefälligkeit, nur durch einen dünnen Schleier getrennt von exzessiver Gewalt.
Das verstörende Geräusch einer Schiffssirene riss sie schließlich aus ihrer Agonie.
Sie wand sich sanft aus meiner Umarmung heraus und küsste mich. Dann trat sie selbstbewusst einen Schritt zurück und trocknete verschämt ihre Tränen.
»Ich hasse es zu weinen«, sagte sie und hustete.
Schweigend drückte ich sie an mich und hüllte sie in meinen langen Mantel.
»Ich weiß, dass ich krank im Kopf bin«, flüsterte Evelyn. »Und das Leben ist für mich, damit klarzukommen.«
»Vielleicht bist du nicht krank. Nur die anderen sind es.«
»Ich bin krank«, erwiderte sie trotzig.
»Nicht für mich«, hauchte ich ihr in den Nacken und drückte sie noch fester an mich.
»Es ist etwas in mir, dass ich nie richtig erklären konnte...«, fuhr sie leise mit dem Gesicht auf meiner Brust fort, »Etwas in mir sehnt sich manchmal nach dem Unangenehmen und Abstoßenden. Nach dem Gegenteil von dem, was gut für mich ist. Und du...«
Sie blickte hoch. Ihre Augen zitterten.
»...Du bist mir manchmal einfach zu nett.«
Ich wusste, dass ich an diesem Sachverhalt nichts ändern konnte. Es würde nichts nutzen, sich nun wie ein Mistkerl zu gebärden. Darum ging es nie. Das hier war nur eine der Facetten ihrer komplexen Psyche und es war doch vom ersten Augenblick an klar, dass ich es nie schaffen würde, allen ihren Aspekten gerecht zu werden.
Warum muss zwischen zwei Menschen stets alles so kompliziert sein?
Als erriete sie meine Gedanken, sagte sie: »Ich lasse schließlich genug in meinem Kopf drin, statt es raus zu lassen. Ich gehe nicht in eine Biker-Bar, um mich dort mit gespreizten Beinen auf den Billardtisch fallen zu lassen« Sie legte kurz ihre Hand auf die meine. »Und wenn du mich schlägst, fühle ich mich sicher.«
»Das geht in deinem Kopf vor?« erwiderte ich abgelenkt. Ich war gedanklich noch bei der Biker-Bar und dem Gangbang auf dem Billardtisch.
»In allen Köpfen gehen doch Dinge vor, die dort lieber bleiben sollten«, meinte sie, ohne dass sie vorhatte, diese Phantasie weiter zu erörtern.
Evelyn befreite sich sanft und doch bestimmt aus meiner Umarmung. Sie schien ihre Fassung wiedergewonnen zu haben. Sie war wie ein Chamäleon das flink die eigene Farbe verändert. Nun war sie wieder die kühle Überfrau, mit der ich mir mal das Taxi geteilt hatte.
»Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der es nur die drei großen ›M‹ gab: Monogamie und Monotonie und Monotheismus. Ich hatte dieses Monodenken irgendwann einfach satt. Aber wenn die Monomenschen uns ansehen, sehen sie nur entartete Tiere, die an AIDS und Drogen sterben. Ich wollte aber nicht in ihrer grauen Monowelt leben. Ich wollte ohne die Lügen des Alltags leben. Jeder in der Welt der drei ›M‹ belügt jeden, inklusive sich selbst. Eltern belügen ihre Kinder. Kinder belügen ihre Eltern. Menschen gehen notorisch fremd und belügen ihre Liebschaften, ihre Ehepartner und sich selbst. Es ist alles so scheinheilig. Nein, danke!«
Ich war in der Theorie ihrer Meinung. Die Worte klangen wie mein eigenes Vorwort zu dem Buch Ein Leben gegen die Spießer , das ich sicherlich eines Tages schreiben würde. In der Theorie lassen sich diese Dinge recht zufriedenstellend entwerfen. Die Praxis zwingt uns dann zu einer Auseinandersetzung mit den Hürden. Mit der Eifersucht und mit dem Ego. Mit Instinkten und generationenlanger Doktrin.
Es gab Momente, da wuchs mir
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