In der Brandung
eine Zigarette an und blickte auf die leeren Straßen hinunter, mit einem Gefühl inneren Friedens. Das gefiel mir sehr.«
»Das hätte ich nicht gedacht.«
»Es ist ein Ort voller Überraschungen. In La Candelaria befindet sich die Nationalbibliothek, und es heißt, sie sei die meistbesuchte Bibliothek der Welt.«
Roberto unterbrach sich. Er rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen; er massierte sich die Schläfen.
»Erzählen Sie mir mehr von dieser Bibliothek.«
»Gut. In Wirklichkeit war ich nie drinnen, ich kenne sie nur von außen. Jemand hat mir davon erzählt …«
Auf einmal hatte Roberto das Gefühl, eine Sprache zu sprechen, die er nicht beherrschte. Die Wörter kamen ihm nicht mehr auf Italienisch in den Sinn, stattdessen fielen ihm ganze Sätze auf Englisch und Spanisch ein. Das dauerte ein paar Sekunden, dann war alles wieder an seinem Platz.
»Ein Mädchen. Sie erzählte mir von der Bibliothek. Sie war fast zwanzig Jahre jünger als ich und die Tochter eines der Männer, die wir im Visier hatten. Ich lernte sie zu Hause bei ihrem Vater kennen, und nach zwei Tagen war es, als würden wir uns schon immer kennen. So etwas war mir noch nie passiert.«
»War sie schön?«
»Nicht nur schön. Sie war intelligent, tiefgründig, leidenschaftlich. Und außerdem war sie auch noch nett, sie brachte mich zum Lachen, machte aus mir einen besseren Menschen, als ich eigentlich bin. Sie war die bemerkenswerteste Person, die mir je begegnet ist.«
»Was war sie von Beruf?«
»Sie studierte noch, sie war kurz vor dem Examen in Literatur, und sie hatte gar nichts mit der Welt ihres Vaters zu tun. Als sie mitbekam, dass wir geschäftlich miteinander zu tun hatten – das heißt, von Anfang an –, sprach sie davon, ihr Leben ändern zu wollen. Sie sagte, sie wolle von dort weggehen, nach Italien. Wir könnten dort ein Geschäft aufmachen oder ein kleines Hotel, irgendetwas, das ein normales Leben ermöglichte.«
»Was haben Sie geantwortet?«
»Ich sagte, dass ich das schön fände. Und wie ein Irrer glaubte ich tatsächlich, dass sich irgendwie alles fügen würde und wir es schaffen würden.«
»Sagen Sie mir ihren Namen?«
Roberto sah ihn überrascht an. Der Doktor blickte erwartungsvoll zurück.
»Jetzt, da Sie mich fragen, wird mir klar, dass ich sie wahrscheinlich nie beim Namen genannt habe. Wir nannten uns nicht beim Namen. Wir sagten uns all die Dinge, die Verliebte einander sagen und die man sich nicht zu wiederholen traut. Ich nannte sie amore oder tesoro , auf Italienisch. Ich habe jetzt einen Moment gebraucht, um mich an ihren Namen zu erinnern. Sie hieß Estela.«
»Warum im Imperfekt?«
»Wie bitte?«
»Warum sagen Sie, sie hieß ?«
Roberto riss den Kopf instinktiv zur Seite und nach hinten, als erwarte er eine Ohrfeige oder einen Fausthieb, dem er ausweichen wollte.
»Das war unabsichtlich. Nein, sie ist nicht tot … ich glaube jedenfalls nicht. Ich weiß nicht, warum ich die Vergangenheitsform verwendet habe.«
»Ist sie die Person aus dem Traum?«
»Ja.«
Lange Pause. Wie ein endgültiges Resümee, eine stumme, schnelle Aufrechnung zum Schluss.
»Ich hätte mich natürlich nicht darauf einlassen sollen. Aber am Anfang sagte ich mir, dass es nur eine Affäre sei – davon hatte ich mehrere bei meinen Missionen gehabt –, obwohl alles darauf hindeutete, dass es etwas anderes war. Anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Ich habe noch nie eine Frau so geliebt wie sie.«
Nach einer weiteren Pause, wahrend der sich Bilder übereinanderschoben, die keiner Chronologie folgten, sagte er: »Ich rutschte immer tiefer in die Sache hinein, ohne die Dinge steuern zu können. Ich tat weiter meine Arbeit – sammelte Informationen, übermittelte Informationen, organisierte Kokain-Transporte und bereitete Festnahmen vor –, und zugleich lebte ich ein anderes Leben, in dem ich ein verliebter Mann war, der romantische Dinge tat und absurde Zukunftspläne schmiedete. Mir war überhaupt nicht bewusst, was ich tat, und schon gar nicht, dass ich mich auf einen Abgrund zubewegte.«
»Wie lange dauerte das?«
Wieder schien Roberto sich über die Frage zu wundern. Er musste über seine Antwort nachdenken, und als er sie hatte, schien ihn das noch mehr zu wundern.
»Sechs Monate, vielleicht etwas länger. Wenn ich nicht den genauen Zeitraum wüsste, würde ich denken, dass es viel länger war.«
»Der Zeitraum dehnt sich in Ihrer Wahrnehmung.«
»Ja, genau. Während der Moment des
Weitere Kostenlose Bücher