In der Falle - Leino, M: In der Falle
und Wahrheit gar nicht unterscheiden können. Oder wie siehst du das?«
Luhta sagte nichts. Er konnte nicht. Sundström war wieder dabei, die Oberhand zu gewinnen, so wie alle anderen die Oberhand gewannen, wenn sie mit ihm zu tun hatten. Aber diesmal würde er sich wehren. Er wollte nicht, dass Teemu und Ville in der Schule gepiesackt wurden, wie es ihm so oft passiert war. Er wollte nicht, dass Annika sich für ihren Mann schämen musste. Das war nicht in Ordnung. Das würde er nicht zulassen. Seine Söhne würde man nicht auf dem Schulweg verhauen, man würde ihnen nicht ins Gesicht spucken und sie am eigenen Gürtel mit dem Kopf nach unten an die Garderobe vor der Handarbeitsklasse hängen, wo sie hilflos darauf warten mussten, bis endlich die Putzfrau kam und ihnen herunterhalf, die Putzfrau, die sie schon im Gang hinter der geschlossenen Brandschutztür klappern hörten und trotzdem nicht zu Hilfe rufen mochten, weil ihnen ihre Situation so unsagbar peinlich war. Das würde er ihnen ersparen. Plötzlich spürte Luhta wieder den schrecklichen Schmerz, als die Rauchertruppe ihn auf dem Fahrradweg abpasste, der durch den Wald neben der Sveitsinrinne-Schule führte. Das Schlagen und Treten allein hatte ihnen nicht gereicht, sie hatten ihn auch noch in den Wald geschleppt und ihm das Hemd vom Leib gerissen, und jeder durfte ihm, während die anderen ihn festhielten, die Zigarette auf dem Rücken ausdrücken. Die Narben waren ihm geblieben, außer vor Annika zog er seitdem vor niemandem mehr das Hemd aus, nicht einmal vor seinen Söhnen. Gerade nicht vor seinen Söhnen. Er hätte sie nicht glaubhaft belügen können, und die Wahrheit brauchten Teemu und Ville nicht zu wissen.
»Du«, Sundströms Finger zeigte auf Luhtas Brust, »warst derjenige, der am Dienstag nicht gekommen ist. Was denkst du dir eigentlich? Wolltest du mich verarschen und die Geschäfte hier drinnen wieder selbst in die Hand nehmen?«
Aber Luhtas Sklavenzeit war jetzt vorbei. Er war die längste Zeit der ängstliche und hilflose Schwächling gewesen, den jeder herumschubsen konnte, wie es ihm passte. Er übernahm endlich die Verantwortung für sich und sein Leben, ein für alle Mal.
»Es ist vorbei«, sagte Luhta. »Ich hab schon lange nichts mehr selbst verkauft, und ich werde auch dir nichts mehr liefern, was du verkaufen kannst.«
Luhta wunderte sich über die plötzliche Sicherheit in seiner Stimme und sah, dass auch Sundström für einen Augenblick überrascht war. Aber nur für einen Augenblick, dann lag auf dem kleinen Meerkatzengesicht der alte Ausdruck von Verachtung und Hohn. Und Luhtas Gedächtnis förderte eine Horde schubsender, affengesichtiger Jungen zutage, die über seine Tränen lachten, seine eingenässte Hose und den Rotz, der ihm über den Mund lief und als ekliger zäher Tropfen unterm Kinn hängen blieb. Damals hatte er die drei entscheidenden Worte nicht herausbekommen, und darum war es auch nicht vorbei gewesen – nicht bevor er die Schule verlassen und an einem anderen Ort die Kollegstufe des Abendgymnasiums besucht hatte, an einem Ort, wo niemand ihn kannte und auch er niemanden kannte. Dort hatte er dann Annika kennengelernt.
»Es ist vorbei«, wiederholte Luhta.
Nach der Kollegstufe waren noch zwei Jahre vergangen, dann hatten sie geheiratet. Und sie waren schon zwölf Jahre verheiratet gewesen, bevor er auf Annikas Wunsch nach einem Kind eingegangen war. Und nach Villes Geburt hatten sie auch noch Teemu bekommen. Annika hatte er schon während der Kollegstufe erzählt, was er in seiner Kindheit hatte durchmachen müssen. Später hatte er von seinen Ängsten gesprochen, dass ihre Kinder, wenn sie welche hätten, einmal durch dieselbe Hölle gehen mussten. Annika hatte seine Ängste vertreiben können. Es sei keine Familienkrankheit, hatte sie gesagt, nichts, was sich von Generation zu Generation weitervererbe. Verspottet zu werden, hatte sie gemeint, unerwünscht, verhöhnt und hilflos zu sein. Annika hatte seine Narben gestreichelt und geküsst und das Böse von ihnen fortgepustet. Aber es hatte nie ganz geholfen. In den Nächten kam alles wieder, eine Zeitmaschine warf ihn immer von neuem in den Kreis der Hölle zurück.
»Was quatschst du da?«, sagte Sundström. »Hast du’s immer noch nicht verstanden, Idiot: Es ist vorbei, wenn ich es will.«
»Euklid von Alexandria«, hörte Luhta sich sagen, während er zwei weitere Knöpfe seiner Jacke aufknöpfte. So konnten seine Finger den Revolver erreichen, den
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