In der Falle - Leino, M: In der Falle
gebracht.« Sari war erstaunlich ruhig. Sie schniefte hin und wieder, aber sie sah erleichtert aus, als wäre ihr eine schwere Last von der Seele genommen.
»Warum?«
»Ich wollte nicht … dass jemand was merkt.«
»Weißt du, wie viel das alles zusammen war?«
Sari schüttelte den Kopf und sagte etwas so leise, dass Viitasalo es nicht hörte.
»Was hast du gesagt?«
»Ich muss wieder arbeiten.«
»Gute vierundzwanzigtausend«, sagte Viitasalo und schob den Rechnungsstapel von sich. »Du müsstest vier Jobs gleichzeitig machen oder Nokia übernehmen, damit wir das schaffen. Sari, warum?«
Sari sagte nichts.
Und Viitasalo schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sag mir, warum?«
Sari blieb lange still. Viitasalo sah, dass sie zitterte.
»Ich will wieder arbeiten.«
»Das hätte ich auch mit weniger unbezahlten Rechnungen verstanden, verdammt!«
»Nein, das hättest du nicht!«, schrie Sari. »Ich will wieder arbeiten, und ich kann die Verantwortung für Liina nicht mehr übernehmen!«
»Dass dein Vater gestorben ist, tut mir leid, Sari. Ich versteh ja, dass dich das durcheinandergebracht hat, nur dass es so schlimm ist … Dein Vater hat Krebs gehabt, das hat doch mit Liina nichts zu tun, deshalb musst du doch nicht Messer vergraben und die Windeln nicht mehr wechseln. Dein Vater hat ein Leben lang wie ein Schlot geraucht, dass so jemand an Lungenkrebs stirbt, damit muss man fast rechnen. Und dass Liina gleich nach seinem Tod auf die Welt gekommen ist, war schwierig, das versteh ich, ich mochte Kaarlo auch gut leiden, sehr gut sogar, das weißt du.«
»Du verstehst gar nichts«, sagte Sari und stand auf.
»Nein, vielleicht nicht!«, schrie Viitasalo. »Aber dass wir verratzt sind, das versteh ich!«
Sari drehte sich an der Tür zu ihm um. »Du hilfst mir überhaupt nicht. Du verstehst nicht mal, wie durcheinander ich bin.«
»Wer ist hier durcheinander?«, schrie Viitasalo und hob den Rechnungsstapel hoch. »Soll ich dir was sagen: So durcheinander wie heute war ich in meinem ganzen Leben noch nicht.«
»Ich kann nicht schlafen und nicht essen, ich hab Angst, aus dem Haus zu gehen, und ich schaff’s nicht, mich zu schminken, zu putzen, zu spülen – ich schaff gar nichts.«
»Aber du schaffst es noch zu shoppen?«
»Ich kann mich nicht mal erinnern, wann ich das ganze Zeug bestellt habe. Ich vergesse Dinge, ich fühle mich oft verwirrt, als wäre alles um mich herum unwirklich. Ich hab die Sachen bestellt und, wenn sie da waren, gleich wieder weggebracht. Weil ich mich geschämt habe. – Du begreifst nicht, dass ich wieder arbeiten muss «, schrie Sari und stampfte mit dem Fuß auf wie ein kleines Kind.
»Gute Idee. Vielleicht muss man dann auch das Brot bald nicht mehr mit den Händen auseinanderreißen.«
»Ich hab die Messer vor mir selbst versteckt!«
»Warum?«
»Denk drüber nach!«, sagte Sari und lief aus der Küche.
Viitasalo starrte lange die leere Türöffnung an. Er verstand immer noch nicht. Er zog den Rechnungsstapel zu sich her, seufzte und begann, die Rechnungen nach der Dringlichkeit zu ordnen. Er tat es mechanisch wie ein Roboter.
Viitasalo hatte damals nicht verstanden, weil er nicht verstehen wollte. Sari hatte wieder zu arbeiten begonnen, und alles hatte sich nach und nach wieder normalisiert. Die schlechten Momente verwelkten wie Blätter, fielen zu Boden und wurden zu Erde. Nur manchmal blieben am Rechen des Gedächtnisses mit frisch geschnittenem Gras auch schleimige, zerfledderte, braun gewordene Blätter hängen. Dann tauchten Dinge auf, die man längst begraben glaubte.
Viitasalo las das Ende des Artikels noch einmal:
Alle Mütter sehen sich mit dem Mythos konfrontiert, wonach die Mutter eines Babys glücklich sein muss. Darum fühlen sich Mütter, die an depressiven Verstimmungen leiden, oft unzulänglich. Sie glauben, die Verstimmungen seien auch ein Zeichen dafür, dass sie ihr Kind nicht genug lieben, und haben Angst, schlechte Mütter zu sein. Und doch ist es so, dass depressive Verstimmungen in den seltensten Fällen daher rühren, dass eine Mutter ihr Kind nicht liebt. Mütter, die eine depressive Verstimmung nach einer Geburt sehr stark erleben, leiden später häufig auch unter echten Depressionen. Am häufigsten betroffen sind Mütter, die sich sehr stark mit ihrer Arbeit identifizieren.
Warum hatte er die Seite wieder geöffnet? Wegen dieser letzten Sätze? Wegen Sari? Weil Sundström ihn zu einer Zeitreise gezwungen hatte? Oder weil er jetzt
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