In der Hitze der Stadt
sagte Steiner mit fester Stimme.
»Mina?«
»Ja, ich kannte das Mädchen, habe es oft gesehen, wie es durch unsere Straße ging.«
Baumer setzte seine Kaffeetasse ab. Er fuhr sich mit der rechten offenen Hand übers Gesicht, wieder und wieder. Ein Mädchen war tot, ging es ihm durch den Kopf. Und hier hatte er einen verurteilten Kinderschänder, der sie gut gekannt hatte. Wenn das publik würde, liefe Steiner Gefahr, vom Mob gelyncht zu werden. Für eine Verhaftung hatte Baumer zwar bei Weitem nicht genug Verdachtsmomente, aber es gab nicht viel zu überlegen. Er müsste Steiner mitnehmen, zu dessen eigener Sicherheit. Vor dem Zwangsmaßnahmengericht würde er Untersuchungshaft beantragen, obwohl es für eine Inhaftierung hohe Hürden gab. Doch 24 Stunden Haft für Steiner würde das Gericht ihm bewilligen, denn auch sie waren unter großem Druck und würden keine Fehler machen wollen. Es gab ja immerhin die Chance, dass Steiner tatsächlich der Mörder war, und die Untersuchungsrichter hatten garantiert keine Lust darauf, sich von der Presse vorwerfen zu lassen, man ließe einen Mordverdächtigen frei herumlaufen.
Baumer kratzte sich an der Schläfe. Er sprach wie zu sich selbst: »Sie haben es selber gesagt. Sie sind ein verurteilter Kinderschänder. Und es ist ein Mädchen ermordet worden. Sie kannten es. Da muss ich einfach …«
Hans Steiner wartete das Ende des Satzes nicht ab. Er erhob sich langsam, drehte sich von Baumer weg und trat in den Korridor. Er zog seinen speckigen Kittel an, seinen einzigen. Er richtete das alte Stück vor dem Spiegel. Es gelang kaum. Sein dürrer, faltiger Hals verlor sich im Kragen. Dann öffnete der 80-Jährige einen Wandschrank und nahm ein kleines Köfferchen heraus. Das schien er für solche Fälle immer gepackt zu haben. Wahrscheinlich war er schon mehrfach bei ähnlichen Verbrechen in Untersuchungshaft genommen worden und hatte sich schon in sein ewiges Schicksal ergeben. Er schloss die Schranktür sorgfältig, drehte sich in Richtung Küche, schaute zur Sicherheit, ob das Gas und das Licht abgedreht waren. Dann nahm er den Staubwedel, der griffbereit auf der Anrichte lag. Er fuhr damit fein säuberlich noch einmal über den Nippes, richtete ihn aus, obwohl die Stücke längst wie Zinnsoldaten in Reih und Glied aufgestellt waren. Als er damit fertig war, nahm er sein Köfferchen erneut auf und packte seinen speckigen Sommerhut. Er sah den Kommissar undurchdringlich an. »Gehen wir«, sagte er.
*
Baumer hatte Heinzmann angerufen und ihn zum Haus von Hans Steiner gebeten. Als der Wachtmeister kurz danach ankam, öffnete der Kommissar dem Alten die hintere Seitentür des Polizei-Mercedes. Er selbst stieg vorne ein. Das Köfferchen behielt Steiner auf seinem Schoß. Die beiden Basler Polizisten begrüßten sich nicht. Stattdessen begannen sie sogleich ihre Erkenntnisse auszutauschen.
»Das ist Hans Steiner«, sagte Baumer. »Er muss in Untersuchungshaft genommen werden.«
Stefan Heinzmann antwortete nicht, blickte den Alten nur durch seinen Rückspiegel an. Der saß da, wie ein alter einsamer Mann in der Migroskantine dasitzt – von allen verlassen.
Gemeinsam fuhren sie zum Waaghof, dem Untersuchungsgefängnis von Basel. Während der Fahrt berichtete Heinzmann, dass er und die anderen Patrouillen keine Verdächtigen aufgreifen konnten. Das erstaunte Kommissar Baumer nicht, denn der Mörder war von niemandem bei der Tat beobachtet worden. Nach wem sollten sie suchen? Und durch ein merkwürdiges Benehmen war auch niemand aufgefallen.
Am Waaghof übernahmen die Beamten vor Ort Baumers Fang, begannen sogleich mit den administrativen Arbeiten und Abklärungen. Der Dreck unter den Fingernägeln wurde als Erstes gesichert. Dann wurde Steiner befohlen, seine Taschen zu leeren, wurde zusätzlich abgetastet. Fingerabdrücke wurden genommen, Bilder gemacht. Seine Kleidungsstücke musste Steiner ablegen. Sie wurden etikettiert. Jedes Teil würde auf Blutspuren untersucht werden.
Baumer mochte es nicht mit ansehen. Sowieso brauchte er dringend Koffein. Also gingen er und Heinzmann ausnahmsweise einmal zum Kaffeeautomaten im oberen Stock des Untersuchungsgefängnisses, das nahe der Heuwaage, fast im Zentrum der Stadt lag.
»Willst du tatsächlich noch einen Kaffee einwerfen?«, fragte Baumer seinen Freund in Uniform. «Deine Nachtschicht ist doch längst fertig. Möchtest du nicht lieber schlafen gehen?«
»Lass mir einen doppelten Espresso raus. Ich kann sowieso nicht
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