Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Hitze der Stadt

In der Hitze der Stadt

Titel: In der Hitze der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
Vom Netzwerk:
Steiner nahe dem Fenster. Als Baumer genug gesehen hatte und sich zu ihm drehte, fragte der Alte: »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Inspektor?«
    »Ich bin nicht Inspektor. Ich bin ein Kommissar der Kriminalpolizei.«
    »Für mich sind Sie wie jeder Polizist – neugierig.« Steiner widerstand dem Impuls, den Mund verächtlich zu verziehen. Er wollte keinen Ärger, würde daher seine Verachtung gegenüber einem Kriminalpolizisten nie deutlich zeigen. Alte Gewohnheit.
    Baumer war überrascht, dass Steiner ihm feindselig gesinnt war. Mit dem Typen stimmt etwas nicht, wusste er sofort. Sein Gespür für Menschen war ganz gut, und ebenso wie ein Krimineller die Polizisten zehn Kilometer gegen den Wind riechen kann, merkt auch ein Kommissar, wenn das Gegenüber sich nicht wohlfühlt. Unbewusst blickte er auf Steiners Arme, aber sie waren von den langen Ärmeln seines Hemdes bedeckt.
    Steiner hatte seinen Blick bemerkt. Ohne Scham legte er sogleich seinen Unterarm bloß. »Hier!« sagte er unwirsch. »Das wollten Sie doch sehen.«
    Baumer sah neun tätowierte Sterne. Jeder stand für ein Jahr Zuchthaus, wusste er. Sie waren offenbar mit kruder Nadel und ätzender Farbe selbst geritzt. Typische Gefängnisarbeit. Baumer ließ den Blick von den Sternen, schaute Steiner an. Er sagte nichts.
    Der Alte zog den Ärmel sorgsam zurück, schloss den Manschettenknopf; dann aber öffnete er überraschenderweise den Bund seiner Hose und hob das billige Ober- und das löchrige Unterhemd hoch, während er seine Hose, die zu fallen drohte, mit der anderen Hand festhielt. »Da. Schauen Sie nur genau hin«, forderte Steiner den Kommissar auf näherzukommen.
    Andi Baumer musste nicht nähertreten. Er sah die schrecklichen Narben schon von weitem.
    Hans Steiner genügte das nicht. »Was ist?«, blaffte er den Kommissar an. »Sie wollen doch eine große Inspektion machen, oder nicht?«
    Baumer trat näher.
    Insgesamt zählte der Kommissar elf Narben. Sie waren zumeist so breit wie die Klinge eines Dolches. Ein paar waren jedoch deutlich breiter, als wäre das Messer im Bauch des alten Mannes noch hin- und herbewegt worden, als man versucht hatte, ihn abzustechen.
    Baumer hatte genug gesehen.
    Steiner drehte sich ab, als würde er sich plötzlich seines Körpers schämen. Er steckte seine Hemdschöße in die Hose zurück, zog den Gürtel eng.
    Baumer sagte nichts.
    Also sprach Steiner: »Es war im Wauwilermoos, im zweiten Jahr. Sie waren zu viert. Ich hatte keine Chance – diese Feiglinge.«
    »Wie haben Sie das überlebt?«
    »Der Arzt meinte, es sei ein Wunder.« Hans Steiner drehte sich um, blieb aufrecht stehen. »Die Klingen waren nur kurz. Das war mein Glück. Wissen Sie, Dolche mit langen Klingen werden bei einer Inspektion leicht entdeckt.«
    Baumer nickte.
    »Ich hatte Schwein. So drangen die blechernen Knastmesser nicht allzu tief ein, und die Stiche gingen alle am Magen vorbei.«
    »Warum haben Sie gesessen?«
    »Da fragen Sie noch?«, wurde er laut. »Können Sie sich das nicht denken? Denken Sie doch einmal!«
    Als Baumer nichts sagte, ruckte Steiner plötzlich hoch, nahm Haltung an wie ein Rekrut vor seinem Leutnant. »Ich bin ein verurteilter Kinderschänder.«
    Baumer wurde von der Aussage Steiners beinahe umgeworfen. Irgendwie überforderte ihn das hier alles. Er schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf, weil ihm schwindelte. Da stand also ein Kinderschänder vor ihm, erzählte ihm in seiner mickrigen, aber penibel sauber gehaltenen Wohnung das halbe Leben.
    Andi Baumer fasste sich an die Stirn. War dieser alte Mann auch der Mörder des jungen Mädchens? Warum? Weshalb? Die Gedanken wirbelten in Baumers Kopf umher. »Mir ist heiß«, beichtete er und zog den Kragen seines Hemdes auf. »Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, bat er. Und weil er heute noch gar keinen Kaffee getrunken hatte, fügte er an: »Und einen Kaffee, wenn es geht.«
    »Jawohl«, sagte der Strammstehende.
    »Nur einen Kaffee«, murmelte Baumer. »Und dann erzählen Sie mir alles.«

    *
    Andreas Baumer saß in der Küche von Hans Steiner und erwartete sehnlich seinen Kaffee. Der Kommissar liebte das Türkengetränk in allen Formen und Variationen. Ohne eine vernünftige Dosis Koffein in seinen Adern war er ein lahmer Ackergaul. Sowieso war er kein großer Denker. Seine logisch-analytischen Fähigkeiten waren wohl in Ordnung. Wären sie genial gewesen, wäre er Physiker oder Biologe oder Mathematiker geworden. Seine Intelligenz war aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher