In der Hitze der Stadt
muss heute die Leiche eines Kindes untersuchen. Das belastet mich jetzt schon. Ich bin auch nur ein Mensch. Da halte ich es eben so wie meine Kollegen damals in Liberia.«
Andi Baumer wusste, dass Regazzoni als junger Assistenzarzt für das Rote Kreuz einen Einsatz im Bürgerkrieg in diesem afrikanischen Land geleistet hatte, aber der Gerichtsmediziner hatte ihm nie irgendwelche Details erzählt, war immer verstockt und einsilbig geworden, als er mehr darüber hatte wissen wollen.
»Damals, im Rebellenkrieg war’s schwer«, erzählte Marco Regazzoni jetzt freimütig. »Die alten Chirurgen, denen ich assistierte, haben alle gesoffen. Whiskey pur. Den musste ich immer da haben, vor allen anderen Dingen, sonst wäre das Notspital auseinandergefallen.«
Baumer entgegnete nichts, konnte nur staunend zuhören.
Regazzoni erzählte jetzt wie ein Bach. »Einmal fuhr ich mit meinem Jeep auf eine Tellermine, aber die war schon verrostet und der Zünder verpuffte nur. Tja, das war nicht lustig, aber für mich war’s noch relativ einfach damals. Das war nichts im Vergleich zum Chefchirurg. Ein großer blonder Schwede. Der hatte es am schwersten. Der musste mit dem Finger auf die Patienten zeigen und sagen, den nehme ich, den nicht. Verstehen Sie, Baumer?«
Baumer begriff. Es ist eine unmenschliche Bürde, über Leben und Tod von Menschen entscheiden zu müssen. Zwei haben gleichartige Verletzungen. Zeit bleibt nur für einen. Also Daumen rauf für einen, Daumen runter für den anderen. Einer lebt und einer stirbt. Weiß und schwarz. Und derjenige, der stirbt, musste ins Gras beißen für etwas, das im Kantonsspital Basel als Bagatelle eingestuft worden wäre, im Busch aber unbehandelt unweigerlich zum Tod führt. Denkt man zu lange darüber nach, wen man nehmen soll, stirbt vielleicht noch einer mehr. In solchen Situationen würde wohl jeder zur Flasche greifen.
Regazzoni spürte, dass der Kommissar seine Situation nachvollziehen konnte. Er beruhigte sich ein wenig. Mit tiefem Schnaufer fügte er an. »Das Mädchen ist bereits tot, ich kann gar nichts mehr für sie tun, muss es nur noch untersuchen. Dabei weiß ich ja schon, woran es gestorben ist …« Er machte einen schweren Atemzug. »Dieser Tod ohne jeden Sinn. Das macht es für einen Mediziner doch so schwer. Sie verstehen?«
Andreas Baumer verstand. Ihm war es gleich gegangen am Morgen. Man ist Polizist, auch weil man helfen will. Wenn man gar nichts mehr tun kann, dann überfallen einen die schlimmsten Gedanken, ein Schuldgefühl legt sich wie ein eiserner Panzer um den Körper. Man ist gelähmt.
In der Leitung raschelte es. Erneut klirrte Glas. Als sich Regazzoni nochmals meldete, sagte er mit trauriger Stimme. »Ich habe Kinder sehr gerne.«
»Ja«, sagte Baumer mit leiser Stimme. »Ich auch.«
»Also. Ja, gut. Hhm. Ich muss dann los«, wurde der Tessiner plötzlich drängend.
»Okay. Bitte berichten Sie mir sobald als möglich.«
»Wenn ich alle Proben habe, kann ich Ihnen innerhalb von vier Stunden Antwort geben.«
»Heute Abend?«
»Wahrscheinlich schon dann. Ich werde einfach besonders schnell arbeiten. Spätestens am frühen Abend werden Sie wissen, ob es identifizierbare DNA-Spuren an Waffe oder Opfer gibt.«
»Danke.«
»Also, dann. Adieu.«
Während des ganzen Gespräches war der Kommissar zu Fuß gegangen. Mittlerweile war er schon über den Marktplatz hinweg. Am Ende des Platzes überquerte er die Tramgleise. Dem Impuls, am dortigen Glacéstand vom Mövenpick ein Eis zu nehmen, widerstand er. Er hatte nur Durst – Durst! Also setzte er sich spontan an ein freies Tischchen bei der Brasserie. Er hatte Lust auf einen Eistee und natürlich einen Espresso. Er konnte sich eine kurze Erfrischung leisten. Alle wirklich drängenden Aufgaben waren mit der Aktivierung Regazzonis aufgegleist. Seine Freunde – alle seine Freunde! – hatten einen Job und gingen dem nach. Auch sein Nichtfreund Schneider würde weitere Aufgaben verteilen, selbst Rötheli und seine ihm treu ergebenen Nacheiferer würden irgendetwas tun.
Und er?
Die Bedienung kam. Baumer bestellte.
Mit dem Gedanken an Espressi überkam ihn wieder die Erinnerung. Die Erinnerung an Maja, seine frühere und trotzdem ewige Geliebte, und wie er mit ihr im ilcaffè am Fenster stand und sie den vorbeifahrenden Trams zuschauten und aus den kleinen Tässchen tranken.
Nicht jetzt, dachte Baumer. Nicht jetzt. Ich will nicht an sie denken.
Also dachte er nur umso mehr an sie.
Maja.
Die kleine
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