In der Hitze der Stadt
mehr genötigt hat.« Sie holte ein neues Taschentuch hervor, schnäuzte hinein, behielt dieses in den ineinandergelegten starren Händen. »Wenn Mina bei ihm war, musste sie diesen Firlefanz tragen. Da konnte ich gar nichts dagegen tun. Unsere Politiker lassen einen ja im Stich mit so was.«
»Ich habe gesehen, dass Mina das Kopftuch auch heute Morgen trug.«
»Ja«, sagte die Frau und lächelte milde.
Sie erinnert sich an das Kind, spürte Heinzmann und lächelte ebenso. Er ließ der Frau den Moment.
Als die Erinnerung entflohen war, fuhr die Frau in ihrer Erzählung fort. »Heute Morgen kam sie direkt von ihm. Nach den Besuchstagen hat er Mina am Morgen früh immer bis zur Hochstraße gebracht. Dort habe ich gewartet und sie in Empfang genommen, danach in die Schule gebracht.« Sie schnäuzte sich. »Aber Mina und ich sind nicht so dumm, wie er meint. Unser Trick war, dass Mina eine Caprihose unter dem Rock trug. Den haben wir einfach vor der Schule abgenommen. Das Kopftuch sowieso. Wissen Sie, es gibt doch tatsächlich Lehrerinnen, die nichts Schlimmes darin sehen, wenn ein 12-jähriges Kind in der Schule Kopftuch trägt …«
Clara Werthmüller brauchte den Wachtmeister nicht von diesem Irrsinn überzeugen. Auch Heinzmann war kein Freund von dieser sich oft ins Gegenteil verdrehenden Political Correctness. Auf Hard-Core-Muslime, von denen viele sowieso nur überdrehte Schweizer Konvertiten waren, konnte auch er ganz gut verzichten. Solche Spinner machten es für alle schwer in der Stadt. Heinzmann, viele Einheimische und womöglich noch mehr gut integrierte Muslime fühlten sich von diesen Religionsfanatikern mehr als genervt. Diese Fundamentalisten forderten immer schamloser Sonderrechte. Ansprüche, die mit den freiheitlichen Rechten der Aufklärung nicht zu vereinbaren sind. Kein Wunder, fühlten sich viele Basler in ihrem Alltag, in ihrer Freiheit und ihrer Toleranz bedrängt. Die meisten Bürger dieser Stadt verstanden unter Religionsfreiheit vor allem, dass sie Freiheit vor der Religion haben dürfen. Jeder solle zu Hause glücklich werden mit seinem Glauben, aber anderen nicht seine Sitten und Gebräuche aufzwängen – vorarchaische schon gar nicht. Einer Laisser-faire Politik gegenüber solchen Fanatikern konnte Heinzmann nichts abgewinnen. Seine Meinung teilten durchaus viele muslimische Einwanderer. Auch sie wollten arbeiten und gut leben und ganz normale unauffällige Einwohner sein. Aufgrund der Fanatiker wurde es aber auch für sie immer komplizierter, einfach zu sein. Heinzmann selbst machten diese Typen die Arbeit schlicht nur schwer.
»Wissen Sie«, erzählte Clara Werthmüller, »einmal kam Mina nach Hause und fragte: Mama, was ist eine Hure? Hatte doch tatsächlich ein Junge sie beschimpft, dass ihre Mutter eine Prostituierte sei. Nur, weil ich nicht von Kopf bis Fuß in einem Sack stecke. Das hat mich fuchsteufelswild gemacht.«
Heinzmann notierte einen bestimmten Aspekt dieser Aussage in seinem Hirn.
Fuchsteufelswild.
Das war das normale Gefühl einer Schweizer Frau, die in ihrer eigenen Heimat auf die Stufe einer Hure herabgewürgt wird, nur weil sie ihre Knie zeigt. Das normale Gefühl, notierte Heinzmann im Kopf. Oder doch mehr als das? Er konnte es noch nicht entscheiden.
Stefan Heinzmann wollte noch etwas anderes wissen: »Warum sollte Ihr Mann dem Kind ausgerechnet jetzt etwas antun?«
Die Mutter ruckte auf. Sie nahm das Taschentuch unter ihre tropfende Nase, schnäuzte sich, rieb das Tuch hin und her. »Fragen Sie ihn. Nur er weiß, warum er das getan hat.« Bei diesem letzten Satz musste sie offenbar an das Unglück denken, das sie getroffen hatte. Denn kaum hatte sie ihn ausgesprochen, riss sie die verweinten Augen auf und ein gewaltiger Schauder durchzuckte sie. Tränen strömten die Wangen hinab, Rotz lief ihr über die Lippen. Sie konnte nicht mehr richtig atmen, riss den Mund noch weiter auf und hechelte wie ein erschöpfter Hund. Schließlich hielt sie inne, presste die eingesaugte Luft zitternd aus und heulte, dass es Heinzmann angst und bange wurde. Wehklagend rief sie nach ihrer Tochter. »Mina, Mina!«
Stefan Heinzmann fühlte sich wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Hier war nichts mehr zu fragen. Bald würden Schwestern – und Professor Kaltmann – kommen. Rasch weg hier, schoss es ihm durch den Kopf. »Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich«, sprach er noch zu der Frau, aber die hörte nichts. Also riss er die Tür auf und verschwand.
Als er schon
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