In der Mitte des Lebens
gehen nur das Paar selbst etwas an, das sich mit seiner Krise auseinandersetzen muss. Niemand lässt sich leichtfertig scheiden, das jedenfalls ist meine Erfahrung. Mit einem solchen Weg sind für alle Schmerz, Enttäuschung und der Verlust eines Lebensentwurfes verbunden.
Mir geht es dabei auch um die Frage, wie Trennungen begleitet werden. Das gilt einerseits in der Seelsorge: Oft wird die Kirche, werden Gemeinde oder der Pastor beziehungsweise die Pastorin nicht als Gesprächspartner für Ehe- oder Partnerschaftskrisen angesehen. Da ist die Angst vor dem erhobenen Zeigefinger: »Was ist mit eurem Versprechen – ›bis dass der Tod euch scheidet‹?!« Ganz neu fängt unsere Kirche an, Jesus ernst zu nehmen, der angesichts der drohenden Steinigung einer Ehebrecherin erklärte: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.« Es gibt Trennungsbegleitung und auch Gottesdienste für Menschen, die in Trennung leben oder unter Trennung leiden, bis hin zu Vorschlägen für Rituale, wenn Paare für ihre Trennung oder Scheidung eine Form suchen, die das Ende der Beziehung angemessener würdigt als ein 10-Minuten-Termin im Amtsgericht.
Bei alledem ist es ja nach wie vor so, dass viele Ehen auch lebenslang Bestand haben. Das Gelingen der Beziehung bedeutet dann auch,
dass Krisen bewältigt und Konflikte ausgesprochen werden, dass Menschen an Auseinandersetzungen wachsen, dass sie sich Freiräume zur eigenen Entwicklung
einräumen. Jeden Monat gratuliere ich etlichen Paaren zur Goldenen, Diamantenen oder Eisernen Hochzeit und erhalte darauf oft bewegende Briefe, die meist
sehr ehrlich beschreiben, welche Höhen und Tiefen das Zusammenleben mit sich gebracht hat – und die große Dankbarkeit ausstrahlen. Eine langjährige Ehe
kann zermürbend sein; aber sie kann auch ein großes Geschenk, eine Gnade, ein Glück sein.
Ich finde wichtig, Paare zu ermutigen, über ihre Ehe, ihre Wünsche und Erwartungen miteinander im Gespräch zu bleiben. Dabei spielt in der Lebensmitte
sicher auch die Sexualität eine Rolle. Manche neue Belastungen können auf Paare zukommen, die sich seit Langem kennen. Dass »Viagra« in den ersten zehn
Jahren seiner Existenz dem Pharmakonzern Pfizer 1,8 Milliarden Euro Gewinn einbrachte und angeblich von 35 Millionen Männern ausprobiert wurde, ist ein
Symptom dafür, wie sehr Erektionsstörungen oder die Angst vor sexuellem »Versagen« Männer in der Mitte des Lebens umtreibt. Frauen dagegen scheinen eher
von der Angst geplagt zu werden, nicht mehr attraktiv zu sein. Der Film »Wolke 9«, eine Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem alten Mann,
die auch nackt zu sehen waren, hat große Debatten ausgelöst: Gibt es das überhaupt, dass sich zwei Menschen im Alter noch ineinander verlieben? Sexuelles
Verlangen im Alter – das scheint geradezu tabuisiert. Mir sagte jemand nach dem Film: Sie mögen es ja tun, aber ich will es weder sehen, noch daran
denken. Interessant, wird Sexualität damit doch in eine Zeit des jugendlichen Ungestüms verbannt. Sexualität in der Mitte und in der zweiten Hälfte des
Lebens – ein Tabu. Für Männer vielleicht, weil sie Angst haben, sich nicht »beweisen« zu können. Für Frauen, weil sie Angst haben, körperlich nicht mehr
attraktiv zu sein. Hier können Paare, die einander lange vertraut sind, sichereinen Vorteil haben. Sie haben im besten Falle eine
Intimität aufgebaut, die auch solche Ängste trägt. Im schlechtesten Fall haben sie das Interesse aneinander verloren und verdrängen ihre Sehnsüchte oder
richten sie nach außen.
Bei Menschen, die sich in der Mitte des Lebens neu verlieben, erlebe ich oft ein tiefes Erstaunen, dass nicht nur die stürmischen
Gefühle, sondern auch das körperliche Zusammensein, nicht nur das Begehren, sondern auch seine Erfüllung noch möglich ist – das ist eine große Freude, da
ist viel Dankbarkeit. Beides ist schön: dass es gelingt, wenn langjährige Paare ihre Partnerschaft auch körperlich so gestalten können, dass beide froh
damit leben können, und dass andere neu entdecken, was möglich ist.
Und gleichzeitig gilt: Auch wer keinen (neuen) Partner findet, darf dazu stehen, dass es sexuelle Sehnsüchte gibt, einen Wunsch nach
Nähe. Körperlichkeit ist ein Teil des Lebens! Mich hat unendlich traurig gemacht, was eine Physiotherapeutin mir kürzlich erzählte: Eine ihrer
Patientinnen habe während der Massage geweint; es sei so viele Jahre her, dass
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