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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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benötigten. Und wenn ihr jemand auffiel, der sich in ihren Augen für Joes Metier eignete, ging die Begegnung mit ihr gleich mit einem Jobangebot einher.
    Ihren philanthropischen Neigungen – sowie dem Umstand, dass Joe und Esteban gezwungen waren, ihr illegal erworbenes Geld zu waschen – verdankte es sich auch, dass Joe etwa fünf Prozent von Ybor City aufkaufte. Er kaufte zwei bankrott gegangene Zigarrenfabriken und stellte die entlassenen Arbeiter wieder ein; ein ehemaliges Kaufhaus war nun eine Schule, und ein Gebäude, in dem sich einst ein Sanitär-Großhandel befunden hatte, beherbergte jetzt ein Armenkrankenhaus. Acht leerstehende Häuser wurden von ihm zu Speakeasys umfunktioniert, auch wenn sie von außen weiterhin wie ganz normale Läden aussahen: ein Kurzwarengeschäft, ein Tabakladen, zwei Blumenhändler, drei Metzger und ein griechischer Imbiss, der sich zur Überraschung aller – Joe selbst konnte es am allerwenigsten glauben – eines derartigen Zulaufs erfreute, dass sie die Familie des Kochs aus Athen herüberholten und sieben Straßenblocks weiter einen zweiten Imbiss eröffneten.
    Dennoch fehlte Graciela die Fabrik. Ihr fehlten die Witze und Geschichten ihrer Kolleginnen. Ihr fehlten die Vorleser, die ihre liebsten Romane auf Spanisch vortrugen, und ihr fehlten die Unterhaltungen in ihrer Muttersprache.
    Und obwohl sie die Abende und Nächte stets in ihrem gemeinsamen Haus verbrachte, behielt sie ihr Zimmer über dem Café, auch wenn sie sich dort, soweit Joe wusste, lediglich ab und an umzog. Ganz davon abgesehen, dass ihr Kleiderschrank zu Hause aus allen Nähten platzte.
    »Aber das sind alles Sachen, die du mir gekauft hast«, pflegte sie zu sagen, wenn er sie fragte, warum sie diese Kleider so selten anzog. »Ich will mir meine eigenen Sachen kaufen.«
    Wozu es aber nie kam, da sie ihr ganzes Geld nach Kuba schickte, entweder der Familie ihres nichtsnutzigen Ehemanns oder ihren Freunden in der Anti-Machado-Bewegung. Gelegentlich sammelte Esteban sogar in Kuba Geld für ihre Zwecke, für gewöhnlich, wenn er dort einen neuen Nachtclub eröffnete; manchmal kam er mit Nachrichten zurück, die neue Zuversicht verhießen, auch wenn sich diese Hoffnungen, wie Joe mittlerweile aus Erfahrung wusste, bei seiner nächsten Reise unweigerlich wieder zerschlugen. Doch er brachte auch jedes Mal neue Fotos mit – sein Blick wurde schärfer und schärfer, und er handhabte die Kamera inzwischen wie ein Geigenvirtuose seinen Bogen. In den revolutionären Kreisen Lateinamerikas galt er mittlerweile als große Nummer, was er nicht zuletzt dem Anschlag auf die USS Mercy verdankte.
    »Ist dir eigentlich klar, in welcher Zwickmühle deine Frau steckt?«, fragte er Joe einmal, kurz nachdem er aus Kuba zurückgekehrt war.
    Joe schenkte ihnen zwei Gläser Suarez Reserve Rum ein. »Was für eine Zwickmühle?«, gab er zurück. »Wir können uns leisten, was immer wir wollen. Sie kann sich die schönsten Kleider kaufen, zum teuersten Friseur gehen, die besten Restaurants besuchen –«
    »Vorausgesetzt, dass Latinos hineindürfen.«
    »Das versteht sich von selbst.«
    Esteban beugte sich vor. »Findest du?«
    »Ich wollte damit lediglich sagen«, fuhr Joe fort, »dass wir gewonnen haben. Wir können uns völlig entspannt zurücklehnen. Zusammen alt werden.«
    »Und du glaubst, das ist es, was sie will? Die Frau eines reichen Mannes sein?«
    »Wünschen sich das nicht die meisten Frauen?«
    Esteban quittierte das mit einem seltsamen Lächeln. »Die meisten Gangster stammen aus ärmlichen Verhältnissen – du aber nicht.«
    Joe nickte. »Wir waren nicht reich, aber –«
    »Du hattest ein schönes Zuhause, genug zu essen und konntest eine Schule besuchen.«
    »Ja.«
    »Und? War deine Mutter glücklich?«
    Joe schwieg.
    »Ich nehme an, das heißt nein«, sagte Esteban.
    »Meine Eltern gingen eher wie entfernte Verwandte miteinander um. Mit Graciela und mir ist das völlig anders. Wir können über alles reden, jederzeit. Wir…« – er senkte die Stimme – »vögeln uns die Seele aus dem Leib. Wir können einander blind vertrauen.«
    »Und?«
    »Warum kann sie mich dann nicht lieben?«
    Esteban lachte. »Natürlich liebt sie dich.«
    »Sie sagt es aber nie.«
    »Wen juckt’s?«
    »Mich«, sagte Joe. »Außerdem will sie sich nicht von dieser Arschgeige scheiden lassen.«
    »Was soll ich dazu sagen?«, gab Esteban zurück. »Ich werde in tausend Jahren nicht verstehen, warum dieser pendejo solche Macht über sie

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