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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Rache nehmen, nicht wahr?«
    »Warum solltest du mich dann am Leben lassen?«
    »Damit jeder weiß, dass ich dir alles genommen habe und du nicht Manns genug warst, mir Einhalt zu gebieten.« Joe richtete sich wieder auf. »Ich schenke dir das Leben, Albert. Wer auf dieser Welt sollte so ein Leben auch sonst haben wollen?«

18
    Ein Tier namens Angst
    Während der fetten Jahre sagte Dion des Öfteren: »Jede Glückssträhne hat mal ein Ende.«
    Worauf Joe stets erwiderte. »Genau wie Pechsträhnen auch.«
    »Deine Glückssträhne hält bloß schon so lange an«, sagte Dion, »dass sich niemand mehr an die Pechsträhnen erinnert.«
    Joe hatte an der Ecke Ninth und Nineteenth ein Haus für sich und Graciela gebaut. Spanische und kubanische Arbeitskräfte waren damit beauftragt worden, und Italiener hatten sich um die Marmorarbeiten gekümmert; er hatte Architekten aus New Orleans zu Rate gezogen, um sicherzustellen, dass sich die verschiedenen Stile perfekt ergänzten. Er und Graciela fuhren selbst mehrmals nach New Orleans, um sich im French Quarter inspirieren zu lassen, und sahen sich nicht zuletzt auch auf langen Spaziergängen in Ybor um. Das Anwesen, in das sie schließlich einzogen, verband Neoklassizismus mit spanischem Kolonialstil. Das Haus hatte eine Klinkerfassade und Balkone aus hellem Beton mit schmiedeeisernen Geländern. Die grünen Fensterläden blieben stets geschlossen, so dass es von außen einen fast schlichten Eindruck erweckte und sich schwer sagen ließ, wann jemand anwesend war.
    Drinnen jedoch gingen geräumige Zimmer mit hohen Decken und großzügigen Bogengängen auf den Innenhof, ein Wasserbecken und den Garten hinaus, in dem Bergamotte, Veilchen und Zweizähne neben europäischen Fächerpalmen wuchsen. An den Mauern rankte sich Algerischer Efeu. Im Winter erstrahlten Bougainvilleen neben üppigem gelben Carolina-Jasmin; wenn sie im Frühling verblühten, leuchteten überall Trompetenwinden, so dunkel wie Blutorangen. Ein Weg aus Steinplatten schlängelte sich um den Springbrunnen in der Hofmitte bis zu einem Laubengang, der zu einer geschwungenen Treppe führte, die sich hinter cremefarbenem Klinker ins Haus hinaufwand.
    Alle Türen im Haus waren mindestens fünfzehn Zentimeter dick und mit massiven Scharnieren und Eisenriegeln versehen. Die Kuppeldecke des Salons im dritten Stock war Joes Idee gewesen, ebenso wie die Dachterrasse – ein nahezu unverschämt luxuriöses Extra, da der erste Stock bereits mit einem umlaufenden Balkon ausgestattet war und sich an die Galerie in der zweiten Etage eine ausladende Veranda anschloss. Manchmal vergaß er, dass es die Dachterrasse überhaupt gab.
    Doch nachdem Joe einmal losgelegt hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Gäste, die das Glück hatten, eine Einladung zu Gracielas Wohltätigkeitsgalas zu erhalten, bestaunten den imposanten Salon, die prachtvolle Eingangshalle mit dem mächtigen Treppenaufgang, die importierten Seidenstores, die italienischen Bischofsstühle, die Napoleon-III.-Kippspiegel mit Kandelabern, die marmornen Kaminsimse und die goldgerahmten Gemälde aus einer Pariser Galerie, die Esteban ihnen empfohlen hatte. Manche Wände bestanden aus nackten Augusta-Block-Ziegeln, andere zierten Satintapeten mit Prägemustern oder modischer Stuccolustro. Der vordere Teil des Hauses war mit Parkett ausgelegt, im hinteren befanden sich Steinböden, um die Zimmer kühl zu halten. Im Sommer wurde das Mobiliar mit weißen Tüchern verhüllt, und Gazeschleier schützten die Kronleuchter vor Insekten. Joes und Gracielas Bett war mit Moskitonetzen verhängt, ebenso wie die Badewanne mit den Löwenfüßen, in der sie sich oft nach Sonnenuntergang entspannten und den Geräuschen lauschten, die von der Straße zu ihnen heraufdrangen.
    Das Leben im Überfluss kostete Graciela einige Freunde – die meisten davon ehemalige Kolleginnen aus der Zigarrenfabrik und Frauen, mit denen sie im Circulo Cubano ehrenamtlich tätig gewesen war. Und zwar nicht, weil ihre Freundinnen ihr den neuen Wohlstand missgönnt hätten (auch wenn im einen oder anderen Fall durchaus Neid im Spiel war), sondern weil sie fürchteten, versehentlich irgendetwas Wertvolles umzustoßen. Das hochherrschaftliche Ambiente machte sie nervös, und da sie immer weniger mit Graciela gemein hatten, gingen sowohl ihr als auch ihren Freundinnen bald die Gesprächsthemen aus.
    In Ybor wurde das Haus La Mansión del Alcalde – das Haus des Bürgermeisters – genannt, doch Joe erfuhr erst gut

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