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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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paar rote Tropfen seine Wange und seine Lippen sprenkelten. Dion warf ihm ein Taschentuch zu.
    »Nehmen Sie lieber den Zug, Gary«, sagte Joe, während er seine Patrone vom Schreibtisch klaubte. »Sonst legen wir Sie drunter.«
    Auf dem Weg zum Wagen sagte Dion: »Hast du das ernst gemeint?«
    »Und ob.« Plötzlich war Joe gereizt, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Manchmal überkamen ihn diese düsteren Anwandlungen aus heiterem Himmel. Er wünschte, er hätte sagen können, dass es ihm erst seit dem Gefängnis so ging, doch tatsächlich befielen ihn solche depressiven Schübe schon, solange er zurückdenken konnte – und zuweilen ohne jeden ersichtlichen Grund. In diesem Fall aber vielleicht wegen Smiths Bemerkung, dass er Kinder hatte – die Vorstellung, gerade einen Mann gedemütigt zu haben, der auch ein Privatleben hatte, wollte ihm ganz und gar nicht behagen.
    »Du willst ihn also umlegen, wenn er nicht den Zug nimmt?«
    Vielleicht aber auch nur, weil er einfach zu finsteren Stimmungen neigte.
    »Nein.« Joe blieb an der Beifahrertür stehen und wartete. »Das erledigen unsere Leute.« Er sah Dion an. »Glaubst du, ich würde mir die Hände selbst schmutzig machen?«
    Dion öffnete den Wagenschlag, und Joe stieg ein.

12
    Schwere Kaliber
    Joe hatte Maso gebeten, ihn in einem Hotel unterzubringen. Während des ersten Monats hier unten wollte er sich ausschließlich auf geschäftliche Dinge konzentrieren – und sich keine Gedanken darüber machen, wo er die nächste Mahlzeit herbekam, wer sich um die Wäsche kümmerte und wie lange sich vor ihm jemand im Bad aufhielt. Maso hatte ihm ein Zimmer im Tampa Bay Hotel reservieren lassen; der Name klang keineswegs nach Absteige, auch wenn Joe ihn ein wenig phantasielos fand. Er ging davon aus, dass es dort ordentliche Betten mit flachen Kissen und fades, aber sättigendes Essen gab.
    Stattdessen steuerte Dion nun geradewegs auf einen Palast mit Blick aufs Wasser zu. Als Joe seinen Gedanken laut aussprach, sagte Dion: »So wird der Schuppen hier auch genannt – Plant’s Palace.« Henry Plant hatte es erbaut, der Eisenbahnmagnat, der fast ganz Florida touristisch erschlossen hatte, um Investoren zu ködern, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten hier unten wie Heuschrecken eingefallen waren.
    Ehe Dion vor dem Eingang vorfahren konnte, kreuzte ein Zug ihren Weg. Und zwar keine Spielzeugeisenbahn, sondern ein Transkontinentalzug, der eine gute Viertelmeile lang war. Joe und Dion, nur einen Steinwurf vom Hotelparkplatz entfernt, sahen zu, wie der Zug hielt und reiche Männer, reiche Frauen und ihre reichen Kinder ausspie. Während sie warteten, zählte Joe über hundert Fenster in dem riesigen roten Backsteingebäude des Hotels. Hoch oben erblickte er eine Reihe von Gauben, hinter denen sich vermutlich die Suiten befanden, und über den Gauben ragten sechs Minarette in den grellweißen Himmel – ein russischer Winterpalast inmitten des trockengelegten Sumpflands von Florida.
    Ein neureiches Paar in gestärkten weißen Edelklamotten stieg aus dem Zug, gefolgt von drei Kindermädchen und drei ebenso herausgeputzten Kindern. Zwei schwarze Gepäckträger schoben Wagen mit aufeinandergestapelten Überseekoffern hinter ihnen her.
    »Lass uns später wiederkommen«, sagte Joe.
    »Wieso?«, gab Dion zurück. »Lass uns doch erst mal deine Sachen reinbringen, und dann –«
    »Später.« Joe blickte den Neureichen hinterher, die so selbstverständlich über die Schwelle spazierten, als wären sie in doppelt so großen Häusern aufgewachsen. »Ich habe keine Lust, Schlange zu stehen.«
    Dion sah ihn an, als wolle er noch etwas hinzufügen, doch dann seufzte er nur leise und wendete. Sie fuhren die Straße zurück, über ein paar kleine Holzbrücken und an einem Golfplatz vorbei. Ein älteres Paar saß in einer Rikscha, die von einem schmächtigen Latino mit langärmligem weißen Hemd und weißer Hose gezogen wurde. Hölzerne Schilder wiesen den Weg zu den Shuffleboard-Courts, dem hoteleigenen Jagdrevier, den Kanus, den Tennisplätzen und einer Pferderennbann. Der Golfplatz war grüner, als Joe es sich bei der Hitze hätte vorstellen können. Die meisten Golfer waren weiß gekleidet, und selbst die Männer hatten Sonnenschirme dabei; aus der Entfernung drang ihr Gelächter zu Joe herüber.
    Sie fuhren auf die Lafayette und dann ins Stadtzentrum. Dion klärte Joe darüber auf, dass die Suarez zwischen Kuba und Florida hin- und herpendelten und kaum jemand Genaueres über

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