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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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besonders groß noch besonders muskulös, sondern von unscheinbarer, eher schmächtiger Statur; sein graues Haar war raspelkurz geschnitten. Er sah aus wie ein Mann, der durchaus mit sich reden ließ, wenn man ihm auf Augenhöhe begegnete, aber auch wie einer, der einem die Hölle doppelt so heiß machte, wenn man ihn für dumm verkaufte.
    »Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum«, sagte er. »Ich werde Sie nicht fragen, womit Sie Ihre Brötchen verdienen, und Sie brauchen mir keine Märchen zu erzählen. Okay?«
    Joe nickte.
    »Stimmt es, dass Sie der Sohn eines Polizeicaptains sind?«
    Joe nickte abermals. »Ja, Sir.«
    »Dann wissen Sie ja Bescheid.«
    »Inwiefern, Sir?«
    »Darüber, dass wir« – er zeigte zwischen Joe und sich hin und her – »einen Job haben.« Dann deutete er auf die Fotos. »Aber auch noch ein anderes Leben.«
    Joe nickte. »Und sie werden nie zueinanderfinden.«
    Chief Figgis lächelte. »Ich habe schon gehört, dass Sie gebildet sind.« Ein kurzer Seitenblick auf Dion. »Was man ja wahrlich nicht von jedem in Ihrer Branche behaupten kann.«
    »Oder auch in Ihrer«, sagte Dion.
    Figgis tippte sich zustimmend an den Kopf. Er musterte Joe milde. »Bevor ich nach Tampa gekommen bin, war ich Soldat und U.S. Marshal. In Ausübung meiner Pflicht habe ich sieben Männer getötet.« Kein bisschen Stolz widerklang in seinen Worten.
    Sieben? , dachte Joe. Du lieber Himmel.
    Der Blick des Chiefs blieb so milde und gleichmütig wie zuvor. »Ich habe sie getötet, weil es mein Job war. Ich empfinde weder Freude noch Genugtuung, wenn ich daran zurückdenke, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, verfolgen mich ihre Gesichter noch heute so manche Nacht im Schlaf. Wenn mir morgen aber nichts anderes übrigbliebe, als einen achten Mann zu töten, damit die Bürger dieser Stadt ruhig schlafen können, würde ich es tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Verstehen wir uns so weit?«
    »Absolut«, sagte Joe.
    Chief Figgis trat an eine Karte der Stadt, die hinter seinem Schreibtisch an der Wand hing, und beschrieb mit dem Zeigefinger langsam einen kleinen Kreis um Ybor City. »Wenn Sie sich auf dieses Gebiet beschränken – nördlich der Zweiten, südlich der Siebenundzwanzigsten, westlich der Vierunddreißigsten und östlich der Nebraska Avenue –, werden wir uns kaum ins Gehege kommen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Na, wie hört sich das an?«
    »Klingt gut«, sagte Joe, während er sich fragte, wann Figgis seinen Preis nennen würde.
    Der Chief las die Frage aus Joes Blick heraus, und einen Moment lang verfinsterte sich seine Miene. »Ich nehme kein Schmiergeld. Wäre ich bestechlich, würden drei der Männer, die ich getötet habe, noch leben.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante und sprach mit leiser Stimme weiter. »Ich mache mir keine Illusionen über die Geschäfte in unserer Stadt, mein junger Freund. Würden Sie mich privat fragen, wie ich über die Prohibition denke, könnten Sie dabei zuschauen, wie mir der Hut hochgeht. Ich weiß, dass viele meiner Männer für ein paar Scheine jederzeit in die andere Richtung sehen. Ich weiß, dass in dieser Stadt die Korruption blüht. Ich weiß, dass wir in einer durch und durch schlechten Welt leben. Aber nur, weil ich korrupte Luft atme und von korrupten Kollegen umgeben bin, sollten Sie nicht den Fehler machen, auch mich für korrupt zu halten.«
    Joe nahm Figgis genau ins Auge, forschte nach Spuren von Arroganz, Stolz oder Selbstherrlichkeit in seinen Zügen – den üblichen Schwächen von Männern, die es aus eigener Kraft nach oben geschafft hatten.
    Doch er sah nichts als stille Entschlossenheit.
    Joe kam zu dem Schluss, dass sie den Chief besser nicht unterschätzen sollten.
    »Das werde ich sicher nicht tun«, sagte Joe.
    Chief Figgis streckte die Rechte aus, und Joe schüttelte sie.
    »Danke, dass Sie vorbeigesehen haben. Und Vorsicht in der Sonne.« Ein Anflug von Schalk blitzte in seinen Augen auf. »Ihr Teint wirkt nicht gerade feuerfest.«
    »Hat mich sehr gefreut, Chief.«
    Als Dion die Tür für ihn öffnete, stand plötzlich ein junges Mädchen vor Joe, außer Atem, aber sprühend vor Energie. Es war das wunderschöne rothaarige Mädchen, das er auf den Fotos gesehen hatte; ihr rosig-goldener Teint war so zart, dass ein sanftes Strahlen von ihr ausging. Joe schätzte sie auf etwa siebzehn. Einen Moment lang verschlug es ihm regelrecht die Sprache, und er brachte lediglich ein zögerliches »Miss« hervor. Dennoch weckte

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