In der Oase
lähmen konnten, trat ans Tor und blieb stehen. Am Tor selbst waren sechs Wachposten, kräftige Männer in ledernen Stiefeln, Mützen und Wämsern, die Krummschwerter in der Scheide, aber an der Mauer hinter ihnen lehnten bedrohlich aussehende Äxte. Sie zeigten nicht die geringste Besorgnis, als sich Ramose näherte. »Das Tor ist geschlossen«, sagte einer von ihnen verächtlich. »Du musst warten, bis du dran bist, morgen früh kannst du in die Stadt.« In der schlechten Beleuchtung hatte er offensichtlich nicht die gefesselten Hände des Setius bemerkt.
»Ich bringe eine dringende Botschaft von Kamose Tao«, antwortete Ramose ruhig. »Ich verlange, auf der Stelle eingelassen zu werden.«
»Du und hundert andere«, höhnte der Mann. »Das Tor lässt sich nur von innen öffnen. Wo sind deine Heroldsabzeichen?« Ramose packte den Unterarm seines Setius und hob ihn hoch.
»Hier«, sagte er. »Ich bin Ramose, Sohn des Teti von Chemmenu. Lass das Tor öffnen, du hirnloser Tropf. Ich habe nicht die Absicht, hier herumzustehen und zu betteln wie ein gemeiner Mensch.« Der Soldat musterte ihn sorgfältig und blickte seinen Gefangenen durchdringend an.
»Dich kenne ich«, sagte er zu dem Mann. »Du hast Auaris vor Wochen durch dieses Tor verlassen. Hat man dich gefangen? Warum bringt er dich zurück?«
»Das geht dich nichts an«, unterbrach ihn Ramose grob. »Nur Apophis. Schick ihm auf der Stelle Nachricht!«
»Den man nicht beim Namen nennen darf«, sagte der Soldat laut, doch er hatte etwas von seiner Großspurigkeit eingebüßt. Er blickte hoch und bellte: »Heda! Macht das Tor auf!«, und als Ramose seinem Blick folgte, sah er oben auf der Mauer die schattenhaften Gestalten von Bewaffneten. Es kam keine Antwort, doch dann bewegte sich eine Hälfte des klobigen Tores knirschend nach innen und ging einen schmalen Spalt auf. Der Soldat winkte sie durch und folgte ihnen hastig. »Wartet hier«, befahl er.
In den steinharten Lehm waren beiderseits der ausgefahrenen Straße kleine Räume eingelassen, und der Mann, der ihnen das Tor geöffnet hatte, winkte sie in einen hinein. Ringsum an den nackten Wänden standen Bänke und mitten auf einem Tisch ein Krug Bier und die Überreste eines Mahls. Neben den Schüsseln lagen verschiedene Waffen. Die anwesenden Soldaten widmeten sich dem Würfelspiel.
Ramose und sein Gefangener saßen schweigend da. So vergingen einige Stunden, und Ramose überlegte schon, ob es nicht besser gewesen wäre, er hätte bis zum Morgen vor der Stadt gewartet und wäre dann allein zum Palast gegangen, als der erste Soldat wieder erschien, begleitet von einem Offizier, der sich flüchtig verbeugte. »Bist du tatsächlich Ramose von Chemmenu?«, erkundigte er sich forsch. Ramose nickte. »Dann hat dir der Einzig-Eine einen Streitwagen geschickt. Nimm deinem Gefangenen die Fesseln ab.« Ramose stand auf und zog auch den Mann hoch.
»Los, ihr beiden«, blaffte der Offizier. Ramose folgte ihm hinaus in die frische Luft.
Der Streitwagen wartete. Ohne ein weiteres Wort wurden sie schroff hineingewinkt, der Offizier folgte ihnen und stellte sich hinter sie. Ein Wort zum Wagenlenker, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Sie verließen den nicht überdachten Gang und Ramose blickte sich um.
Es ging flott eine Durchgangsstraße entlang. An ihr reihten sich verlassene Marktstände, unter denen sich der Abfall des Tages häufte. Hinter ihnen begannen die endlosen, unregelmäßigen Reihen von beengten und beliebig hingebauten Lehmhäusern, an die er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte. Die Räder rollten über eine Querstraße, dann kamen weitere schiefe Häuser mit nackten Fenstern, hinter denen mildes Licht schimmerte. Stellen mit festgetretener Erde kennzeichneten Schreine, in winzigen Nischen standen kleine Göttergestalten auf gedrungenen Granitpfeilern, darunter schlichte Altäre. Der Lärm der Stadt war stetig, menschliche Stimmen, bellende Hunde, wiehernde Esel, Karrengerumpel, doch nach ungefähr zwei Meilen nahm er ab. Der Gestank jedoch nicht. Der wiederum war ein Gemisch aus Eseldung, menschlichen Exkrementen und Abfall, stieg Ramose beißend in die Nase und heftete sich an Haut und Kleidung.
Der Streitwagen hatte die wohlhabenderen Viertel von Auaris erreicht. Hohe Mauern, durchbrochen von versteckten Toren, säumten die Straße, und Ramose wusste, dass sich hinter ihnen die Gärten und Häuser der Reichen wie kleine Oasen erstreckten. Es gab nur noch wenig Fußgänger, und die
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