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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Krankenhausflurs. Er sprach gerade mit Hank Millar, und obwohl er ihr den Rücken zukehrte und die übliche grüne Krankenhauskleidung trug, wusste Emma, dass es Jack war. Sieben Jahre Ehe hatten eine Vertrautheit geschaffen, die weit über das bloße Erkennen seines Gesichts hinausging.
    Genauso hatte sie Jack McCallum auch zum allerersten Mal gesehen, als sie beide ihre Facharztausbildung im San Francisco General Hospital gemacht hatten. Er hatte an der Theke der Stationsschwester gestanden und etwas in eine Krankenakte geschrieben; seine breiten Schultern hatten müde gewirkt, und sein Haar war so zerzaust gewesen, als hätte er sich eben erst aus dem Bett gewälzt. Das hatte er tatsächlich: Es war der Morgen nach einer hektischen Nacht im Bereitschaftsdienst. Und wenn er auch unrasiert und verschlafen war – in dem Moment, als er sich umgedreht und sie zum ersten Mal angesehen hatte, hatte es augenblicklich zwischen ihnen gefunkt.
    Jetzt war Jack zehn Jahre älter, in seinem schwarzen Haar waren graue Strähnen zu sehen, und wieder einmal lastete die Erschöpfung auf seinen Schultern. Sie hatte ihn drei Wochen nicht gesehen, hatte lediglich vor ein paar Tagen kurz mit ihm telefoniert – ein Gespräch, das wieder einmal zu einer lautstarken Auseinandersetzung ausgeartet war. Es schien, als könnten sie in letzter Zeit einfach nicht vernünftig miteinander umgehen und wären nicht in der Lage, eine noch so kurze zivilisierte Unterhaltung zu führen.
    Hank Millar erkannte sie zuerst, und seine Gesichtsmuskeln spannten sich augenblicklich an, als wisse er, dass eine Schlacht unmittelbar bevorstand, und er sich flugs aus dem Staub machen wolle, bevor die Schießerei losging. Jack musste bemerkt haben, wie sich Hanks Miene veränderte, denn er blickte sich um, um herauszufinden, was der Grund war.
    Sobald er Emma erblickte, schien er zu erstarren, und das spontane Begrüßungslächeln gefror auf seinen Lippen. Es sah fast so aus, als sei er sowohl überrascht als auch erfreut, sie zu sehen – aber nur für einen kurzen Moment. Dann übernahm etwas anderes die Kontrolle; sein Lächeln verschwand und wurde durch einen Ausdruck ersetzt, der weder freundlich noch unfreundlich war, sondern einfach nur neutral. Das Gesicht eines Fremden, dachte sie. Und das tat irgendwie mehr weh, als hätte er sie mit offener Feindseligkeit empfangen. Dann wäre wenigstens noch
irgendein
Gefühl übrig gewesen, irgendein noch so klägliches Überbleibsel einer Ehe, die einmal glücklich gewesen war.
    Unwillkürlich erwiderte sie seinen ausdruckslosen Blick mit einer Miene, die um keinen Deut weniger neutral war. Und als sie zu sprechen begann, richtete sie ihre Worte an beide Männer gleichzeitig, ohne einen zu bevorzugen.
    »Gordon hat mir von Debbie erzählt«, sagte sie. »Wie geht es ihr?«
    Hank warf Jack einen Blick zu, als erwarte er, dass dieser zuerst antwortete. Schließlich sagte er: »Sie ist immer noch nicht bei Bewusstsein. Wir halten so eine Art Wache im Wartezimmer. Wenn Sie uns Gesellschaft leisten wollen …«
    »Ja. Natürlich.« Sie ging auf das Wartezimmer für Besucher zu.
    »Emma!«, rief Jack ihr nach. »Kann ich mit dir reden?«
    »Wir sehen uns dann später«, sagte Hank, der die Gelegenheit zu einem hastigen Rückzug nutzte. Sie warteten, bis er um die Ecke verschwunden war, dann sahen sie sich an.
    »Debbie geht es nicht gut«, sagte Jack.
    »Was ist denn passiert?«
    »Sie hatte eine Epiduralblutung. Als sie eingeliefert wurde, war sie bei Bewusstsein und konnte sprechen. Innerhalb von wenigen Minuten ging es ihr rapide schlechter. Ich war mit einer anderen Patientin beschäftigt, sodass ich es nicht gleich bemerkt habe. Ich habe erst trepaniert, als …« Er verstummte und wandte den Blick ab. »Sie wird künstlich beatmet.«
    Emma hob die Hand, um ihn zu berühren, doch dann überlegte sie es sich anders – er würde sie doch nur von sich stoßen. Es war so lange her, dass er irgendwelche tröstenden Worte von ihr hatte annehmen können. Was auch immer sie sagte und wie ehrlich sie es auch meinte, er würde es als Mitleid interpretieren. Und das verabscheute er.
    Alles, was sie sagen konnte, war: »So eine Diagnose ist nicht einfach, Jack.«
    »Ich hätte sie eher stellen müssen.«
    »Du hast gesagt, dass sich ihr Zustand rapide verschlechtert hat. Du darfst dir nicht im Nachhinein Vorwürfe machen.«
    »Das ist mir ehrlich gesagt keine allzu große Hilfe.«
    »Ich will dir ja auch gar nicht helfen!«,

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