In der Schwebe
Arbeit war anstrengend, die Unannehmlichkeiten ohne Zahl. Nicht zu vergessen die emotionale Belastung durch das enge Zusammenleben mit einer Crew, die ausnahmslos unter Stress stand, sich nie richtig waschen konnte und oft schmutzige Kleidung tragen musste.
Emma betupfte die Haut mit Alkohol und stach in die Vene. Das Blut schoss in den Kolben der Spritze. Sie sah nach seinem Gesicht und stellte fest, dass er den Blick abgewandt hatte. »Alles okay?«
»Ja. Ich weiß einen geschickten Blutsauger durchaus zu schätzen.«
Sie löste das Stauband und hörte seinen erleichterten Seufzer, als sie die Nadel herauszog. »Sie können jetzt frühstücken. Ich habe allen Blut abgenommen außer Kenichi.« Sie ließ den Blick durch das Modul schweifen. »Wo ist er denn?«
»Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.«
»Hoffentlich hat er noch nichts gegessen, sonst können wir mit seinem Glukosewert nichts anfangen.«
Nikolai, der in einer Ecke des Moduls in aller Ruhe sein Frühstück verzehrt hatte, sagte: »Er schläft noch.«
»Komisch«, meinte Griggs. »Sonst ist er doch immer als Erster aus den Federn.«
»Er hat nicht sehr gut geschlafen«, sagte Nikolai. »Letzte Nacht habe ich gehört, wie er sich erbrochen hat. Ich frage, kann ich dir helfen, aber er sagt nein.«
»Ich sehe mal nach«, sagte Emma.
Sie verließ das Wohnmodul und schwebte durch den langen Tunnel in Richtung RSM, wo Kenichis Schlafstelle war. Als sie dort ankam, fand sie den Vorhang zugezogen.
»Kenichi?«, rief sie. Keine Antwort. »Kenichi?« Sie zögerte einen Moment, dann zog sie den Vorhang zurück und sah sein Gesicht.
Seine Augen waren blutrot unterlaufen.
»O mein Gott«, sagte sie.
DIE KRANKHEIT
9
Die Konsole des Flugarztes in der ISS-Bodenkontrolle war mit Dr. Todd Cutler besetzt, einem Arzt, dessen auffallend jugendliches Aussehen ihm bei den Astronauten den Spitznamen »Dougie Howser« eingebracht hatte – nach einer Fernsehserie über einen halbwüchsigen Doktor. In Wirklichkeit hatte Cutler bereits das gesetzte Alter von zweiunddreißig Jahren erreicht und war für seine Besonnenheit und Kompetenz bekannt. Er fungierte während ihres Weltraumaufenthalts als Emmas persönlicher Arzt, und einmal pro Woche hielten sie über eine gesonderte Frequenz eine Art Funksprechstunde ab, bei der sie ihm die intimsten Details über ihre Gesundheit mitteilte. Sie vertraute Todds medizinischen Fähigkeiten und war erleichtert, als sie erfuhr, dass er in diesem Moment im ISS-Kontrollraum in Johnson Dienst tat.
»Er hat sklerale Blutungen in beiden Augen«, sagte sie. »Ich habe einen Riesenschreck bekommen, als ich das sah. Ich glaube, er hat sie sich zugezogen, als er sich letzte Nacht so heftig erbrochen hat – durch den plötzlichen Druckanstieg sind in seinen Augen wohl ein paar Blutgefäße geplatzt.«
»Das ist im Moment kein so ernstes Problem«, sagte Todd. »Die Blutungen hören von selbst auf. Was haben Sie sonst noch festgestellt?«
»Seine Temperatur ist momentan achtunddreißig sechs, Puls hundertzwanzig, Blutdruck einhundert zu sechzig. Herz und Lungen hören sich gut an. Er klagt zwar über Kopfschmerzen, aber ich kann keine neurologischen Veränderungen feststellen. Was mir wirklich Sorgen macht, ist die Tatsache, dass keine Darmgeräusche zu hören sind und die Bauchdecke diffus druckempfindlich ist. Er hat sich allein in der letzten Stunde mehrmals erbrochen – allerdings bisher ohne Blut.« Sie machte eine Pause. »Tod, er sieht einfach
krank
aus. Und die schlechte Nachricht kommt noch: Ich habe gerade seinen Amylasespiegel gemessen, er liegt bei sechshundert.«
»Oh, verdammt. Glauben Sie, er hat eine Pankreatitis?«
»Bei steigender Amylase ist das auf jeden Fall eine Möglichkeit.« Amylase ist ein Enzym, das in der Bauchspeicheldrüse gebildet wird. Wenn das Organ sich entzündet, schießt der Wert gewöhnlich in die Höhe. Aber Emma wusste, dass ein hoher Amylasespiegel auch durch andere Prozesse in der Bauchhöhle verursacht werden konnte, etwa durch eine Darmperforation oder ein Zwölffingerdarmgeschwür.
»Seine Leukozyten sind auch erhöht«, sagte Emma. »Ich habe Blutkulturen angelegt, nur zur Sicherheit.«
»Wie ist seine Vorgeschichte? Irgendetwas Auffallendes?«
»Zwei Dinge. Erstens hat er unter emotionalem Stress gestanden. Eines seiner Experimente ist schief gelaufen, und er fühlt sich dafür verantwortlich.«
»Und das Zweite?«
»Vor zwei Tagen ist ihm etwas ins Auge gespritzt. Es waren
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