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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und vor dem Lamm. Und der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht, die das Tier anbeten und sein Bild, und wer das Malzeichen seines Namens annimmt.‹« Deedee lächelte schüchtern. »Offenbarung vierzehn: neun bis elf.«
    »Puh«, sagte Maggie mit aufrichtiger Bewunderung in der Stimme, »wie können Sie sich das alles nur einprägen? Ich konnte in der High School nicht einmal die ersten zwei Verse der ›Betrachtung über dem Tod‹, der Thanatopsis, auswendig lernen.«
    Gavin ergriff Deedees Hand. »Vielleicht läßt sich ein anderer Vers leichter auswendig lernen, Johannes drei: sechzehn, siebzehn«, sagte er. »›Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde.‹«
    Ein paar schwere Regentropfen zischten im Feuer. Baedecker sah nach oben und stellte fest, daß die Sterne verschwunden waren und der Himmel über ihnen so schwarz wie die Felswände des Tals aussah. »Verdammt«, sagte er, »ich wollte heute nacht im Freien schlafen.«
    Baedecker lag in dem kleinen Zelt und dachte über seine Scheidung nach. Das war ein Thema, das er sich nur selten ins Gedächtnis rief; die Erinnerungen waren so verschwommen und schmerzlich wie die an die zwei Monate, die er im Krankenhaus verbringen mußte, nachdem er 1962 mit einer F-104 abgestürzt war. Er drehte sich um, aber der unebene Boden drangsalierte ihn durch den Schlafsack und die dünne Schaumgummiunterlage. Tommy Jr. schnarchte neben ihm. Der Junge roch nach Wein und Pot. Draußen klatschten ein paar Regentropfen auf das Zelt, und zehn Meter entfernt gab der Cimarron River, nicht breiter als ein Bach, plätschernde Laute von sich.
    Baedeckers Scheidung war im August 1986 rechtskräftig geworden, nur zwei Wochen vor ihrem achtundzwanzigsten Hochzeitstag. Baedecker war wegen der Formalitäten nach Boston geflogen und hatte dort einen Tag in Carl Bumbrys Haus verbracht. Er hatte vergessen, daß Carls Frau enger mit Joan befreundet gewesen war als Carl mit ihm. Die nächste Nacht verbrachte er im Holiday Inn in Cambridge.
    Zwei Stunden vor dem Gerichtstermin zog Baedecker seinen besten dreiteiligen Sommeranzug an. Joan gefiel der Anzug, sie hatte ihm vor drei Jahren geholfen, ihn auszusuchen. Wenige Minuten, bevor es Zeit war aufzubrechen, wurde Baedecker klar, daß er genau wußte, in welchem Kleid Joan zu der Scheidungsverkündung erscheinen würde. Sie hatte sicher kein neues gekauft, weil sie es nie wieder anziehen würde. Sie würde nicht ihr weißes Lieblingskleid oder den etwas strengeren grünen Hosenanzug tragen. Heute würde ihr nur das purpurne Baumwollkleid leicht und nüchtern genug sein. Und Baedecker hatte die Farbe Purpur nie leiden können.
    Baedecker zog unverzüglich Tennisshorts, ein blaues T-Shirt und Tennisschuhe an. Er streifte das schweißgetränkte Handgelenkband über und warf Schläger und eine Packung Bälle auf den Rücksitz seines Mietwagens.
    Bevor er zum Gericht ging, rief er Carl Bumbry an und vereinbarte ein Spiel für halb fünf in Carls Club, unmittelbar nach der Scheidungsverkündung.
    Joan trug das purpurne Kleid. Baedecker unterhielt sich vor und nach der Verkündung kurz mit ihr, konnte sich später aber nicht erinnern, was sie einander gesagt hatten. Aber an den Punktestand der Tennisspiele erinnerte er sich Carl hatte 6:0, 6:3 und 6:4 gewonnen -, und auch die Einzelheiten jedes Spiels waren Baedecker lebhaft im Gedächtnis geblieben. Nach dem Match duschte Baedecker, zog sich um, stopfte seine Kleidungsstücke in den alten Militärseesack und fuhr nordwärts nach Maine.
    Wie ihm später bewußt wurde, fuhr er allein nach Monhegan Island, weil Joan immer dorthin gewollt hatte. Lange bevor sie nach Boston gezogen waren, selbst an den heißen Tagen in Houston, hatte Joan die Aussicht fasziniert, einen Urlaub auf der kleinen Insel vor der Küste von Maine zu verbringen. Irgendwie hatten sie nie die Zeit dazu gefunden.
    Baedecker war das Bild seiner Ankunft nach einer Stunde Bootsfahrt an Bord der Laura B. im Gedächtnis geblieben. Etwa eine oder zwei Meilen von der Küste entfernt war das kleine Boot in eine dichte Nebelbank geraten, Wassertröpfchen hingen an Kabeln und Tauen des Schiffs. Die Passagiere hatten ihre Gespräche eingestellt, selbst die Kinder, die am Bug spielten, hatten mit ihrem johlenden Herumrennen aufgehört. Die letzten zehn Minuten der Fahrt verliefen schweigend. Dann

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