In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

anderen zu stehlen. Ein paar Schritte entfernt ist das Seltenste, was es gibt – ein anderes Wesen, das allein zu sein glaubt. Ich meine, ja, okay, wir sind vermutlich, wenn wir allein sind, nicht grundsätzlich oder vielleicht nicht einmal merklich anders, aber woher soll man das von irgendjemandem, außer von einem selbst, wirklich wissen? Ist das nicht ein Teil dessen, was du in der Kunst ständig suchst – die Rettung vor Einsamkeit und Subjektivität, das Gefühl, in der Geschichte und in der großen, weiten Welt Gesellschaft zu haben, das menschliche Geheimnis, illuminiert und vertieft zugleich: durch Giottos Verstoßung von Adam und Eva, durch Rembrandts letzte Selbstporträts, durch Walker Evans’ Fotos vom Hale County? Die Kunst der Vergangenheit wollte uns etwas Ähnliches geben wie das, was mit Peter im Moment geschieht – einen Blick in die Tiefen des anderen Menschen. Videos von Passanten sind nicht das Gleiche. Auch nicht obszöne Vasen, tote Haie oder sonst was, wirklich, das ist alles schräg, distanziert oder ironisch, das soll schockieren oder provozieren. Es bietet nichts, was einem schönen, verdorbenen Jungen mit einem Drogenproblem gleichkommt, der sich da drüben, auf der anderen Seite des Schleiers, unbekannte Phantasien ersinnt.
    Oder, okay, vielleicht ist Peter doch schwul und möchte bloß, dass ihm bei diesem kostenlosen Porno einer abgeht.
    War das ein langer Seufzer auf der anderen Seite der Wand oder ein Anschwellen der Musik?
    Was könnten Missys Phantasien sein?
    Man kann es sich unmöglich vorstellen, nicht wahr? Die meisten Männer machen vermutlich mehr oder weniger die gleichen Bewegungen, aber was geht in ihrem Kopf vor, was bringt ihr Blut in Wallung? Was könnte intimer sein, was führt näher zu den Tiefen als das, was uns kommen lässt? Wenn wir wüssten, wenn wir sehen könnten, was in den Sprechblasen über den Köpfen anderer Typen ist, wenn sie wichsen, wären wir gerührt oder abgestoßen?
    Peter stellt fest, dass er an Joanna im See denkt. Joanna war jahrelang seine Hauptphantasie, auch wenn natürlich schon seit Jahrzehnten andere Frauen sie ersetzt haben. Die Vorstellung von Joanna im See (sie dreht sich herum, sie hakt das Oberteil ihres Bikinis auf) ist beeinträchtigt durch das, was aus ihr geworden ist und was Peter vor Jahren bei einer Reise nach Milwaukee gesehen hat: gesund und gepflegt, fröhlich auf die vierzig zugehend, mit einer Brieftasche voller Fotos, eine hübsche und stramme Frau ohne einen Hauch von Sex. Peters Vision von Joanna scheint auch Matthew miteinzubeziehen, Matthew am See, in seiner blauen Badehose, doch Matthew ist ebenfalls beeinträchtigt: durch seinen Tod. Peter meint ein verheerendes Feuer zu spüren. Er ist überrascht, dass er es sexy findet – eine blendende Hitze, die jeden Teil von dir verzehren will. Ja, das Einäscherungsfeuer, aber dennoch. Es ist ein Klassiker, nicht wahr, es ist ewig, der Zyklop, der Wolf oder die Hexe, die dich fressen wollen; es hat uns schon immer erschreckt und erregt, das Wesen, das nach deinem Leib giert, dem der Besitz deiner Seele völlig gleichgültig ist. Wir bestehen natürlich darauf, unsere Räuber zu bestrafen, wir stechen ihnen die Augen aus, füllen ihre Bäuche mit Steinen oder stecken sie in ihre eigenen Öfen, aber sie sind unsere Lieblingsfeinde, wir fürchten und wir lieben sie, warum auch nicht, wenn sie uns so köstlich finden, wenn sie nur unser Fleisch wollen und sich keinen Pfifferling um unsere geheimen inneren Teile scheren? Warum, glaubst du, ist es ein Hai, der Damien Hirsts Karriere begründet hat?
    Ein Virus hat Matthew gefressen. Die Zeit hat Joanna gefressen. Was frisst Peter?
    Er hat einen Ständer. Wie komisch ist das denn? Einen Moment lang wird ihm schwindlig, hat er Schmetterlinge im Bauch wegen gewisser … Möglichkeiten. Komm schon, wenn er schwul wäre, wüsste er es, nicht war? Dennoch, er ist ein Mann mit einer Erektion, einer Erektion, die von diesem speziellen Jungen ausgelöst wurde, seiner Frau im Jungenfummel, und er hört zu, wie der Junge wichst. Ja, Gott helfe ihm, er ist von Missys Jugend erregt und Missys wahrscheinlichem Untergang, und er ist erregt (immer noch, nach all dieser Zeit) von einem einzigen, nanosekundenlangen Blick vor mehr als dreißig Jahren auf Joannas hellrosa Nippel, als sie ihren Badeanzug zurechtgerückt hat, obwohl sich dieser Nippel inzwischen völlig verändert hat; er ist erregt von der Erinnerung daran, jung gewesen zu sein,