In dieser Straße wohnt die Angst
ihm schaukelte ein gewaltiger Korb. Darin sah ich Bill Conolly!
Wie ein Häufchen Elend hockte er in dem Gefängnis, die Hände hatte er um die Gitterstäbe gekrallt, die den Korb zu einem regelrechten Gefängnis machten, und mein Freund befand sich nicht allein innerhalb seines Gefängnisses, er war umgeben von makabren Gegenständen einer schrecklichen Vergangenheit.
Es waren Knochen…
Bleiche Gebeine, die durch das violette Licht einen seltsamen Farbton bekamen und in einem Spiel aus Licht und Schatten schimmerten. Ich sah die Knochen, die den gesamten Boden des Korbs bedeckten und nicht nur das. Sie hatten sich auch zum Teil quer durch die Stäbe gelegt und waren festgeklemmt.
Bill Conolly kniete. Sein Gesicht hatte er ebenfalls gegen die Stäbe gepreßt, die Augen zeigten einen starren Ausdruck, mir schien es, als würde er mich überhaupt nicht erkennen, und ich sah jetzt auch seine zerfetzte Kleidung sowie die Wunden, die seinen Körper bedeckten und an deren Rändern das Blut bereits verkrustet war.
Was hatte Urak mit meinem Freund gemacht? Bill mußte gefoltert worden sein, eine andere Erklärung wußte ich nicht, und ich holte tief Luft, um mich zu beherrschen und nicht durchzudrehen.
Urak gab mir einen Teil der Erklärung. »Es ist der Schandkorb«, erklärte er. »Ich habe ihn ebenfalls aus der Straße mit in meine Welt geschafft. Wer einmal in ihm steckte, der hat nie überlebt. Er ist dem Tod geweiht, denn er gehört meinem Diener Raak.«
»Wer ist Raak?«
Das Skelett lachte grollend. »Gleich, John Sinclair, gleich wirst du ihn sehen können, denn Raak kommt zu einer bestimmten Zeit und schaut nach, ob sich ein Opfer innerhalb des Korbs befindet. Zweimal ist er bereits hier gewesen. Dein Freund hat gut gekämpft, das muß man ihm lassen. Die meisten haben die erste Begegnung mit Raak nicht überlebt, sie wurden von ihm getötet und gefressen. Doch dein Freund ist mutig und stark, er hat Raak zweimal abwehren können. Ein drittesmal wird ihm dies nicht mehr gelingen, denn er ist am Ende seiner Kraft. Er hat versucht, mit der Pistole zu schießen, doch Raak hat so stark in seine Hand gehackt, daß er nicht dazu gekommen ist. Jetzt ist er waffenlos, und Raak wird auch ein drittesmal kommen und ihm den Rest geben. Vielleicht kannst du zuschauen.«
Ich hatte die Worte genau verstanden, und hegte keine Zweifel daran, daß mein Feind sie auch erfüllen würde. Natürlich war ich gespannt auf Raak, aber ich war auch zu stolz, um Urak danach zu fragen. Statt dessen kümmerte ich mich um etwas anderes. Um den Spiegel. Er sollte mir die Vergangenheit zeigen. Ein geheimnisvoller, unheimlicher Gegenstand, in dem die Zeiten gebannt worden waren, um die Angst heraufzubeschwören, denn nicht umsonst nannte sich Urak der Angst-Dämon. Als ich den Blick senkte, da erkannte ich, daß der Pfahl, an dem der Schandkorb hing, genau aus der Mitte des Spiegels ragte. Das war mir zuvor nicht aufgefallen. Demnach mußte die bedauernswerte Person, die als Gefangene im Korb steckte, genau erkennen können, was sich unter ihr abspielte.
Wahrscheinlich zeigte man ihr noch kurz vor ihrem Tode die eigene Vergangenheit, die dann wie ein Film vor ihren Augen ablaufen würde. Eine grausame Folter.
»John!«
Schwach vernahm ich Bills Stimme, und ich zuckte zusammen, als sie meine Ohren traf. Der Reporter hatte mich gesehen, er war also noch so weit bei Sinnen, daß er mich erkennen konnte.
Ich hob meinen Blick.
»John!« Ein Stöhnen schwang mir entgegen, und in meinem Körper sammelte sich der Haß gegen Urak.
»Okay, Bill«, erwiderte ich flüsternd. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin…«
Ein irres Gelächter unterbrach mich. »Er macht ihm Mut. Das finde ich gut, die Todgeweihten machen sich gegenseitig Mut. Wie herrlich es doch ist, aber du solltest dir lieber selbst Mut machen, John Sinclair, denn nun kannst du erkennen, wie mächtig ich bin. Schau auf den Spiegel!«
Hart und herrisch hatte Urak gesprochen. Ich wandte meinen Blick von Bill Conolly ab und blickte nach unten. Die Magie begann zu wirken. Aus dem Spiegel wurde das Fenster zur Vergangenheit. Zuerst veränderte sich nur die Fläche. Sie wurde wesentlich heller, ohne allerdings klar wie ein richtiger Spiegel zu sein. Eine gewisse matte Schicht blieb zurück, und die veränderte sich auch nicht, als ich innerhalb des Fensters Bewegungen sah. Sie erschienen mir seltsam schwerfällig und zeitlupenhaft zu sein, aber sie waren vorhanden, daran ging
Weitere Kostenlose Bücher