In einem Boot (German Edition)
denn ihr Gesicht dehnte sich bis zum Zerreißen über ihre Knochen, vor lauter Angst und Abscheu.
Es wollte mir scheinen, dass jemand wie Mary Ann oder Maria, die beide schwach waren, die offensichtlichen Kandidaten waren, aber als einer der Männer – war es Mr Nilsson? – behauptete, die Männer seien in unserer Situation weitaus nützlicher als die Frauen, und wenn jemand geopfert werden müsse, dann solle es eine Frau sein, war ich schockiert. Aber insgeheim war ich seiner Meinung. Vielleicht widersetzten wir uns der Vorstellung nur deshalb so vehement, weil sie wahr war. Als sich Mary Ann, einer Ohnmacht nahe, an mich drängte, schob ich ihr Haar von ihrem Ohr weg und flüsterte: »Warum nicht, Mary Ann? Sie ersparen sich eine Menge Qual und Leiden, wenn Sie sich ins Meer stürzen. Sie sterben doch sowieso, und ich habe gehört, Ertrinken sei viel angenehmer als Verhungern oder Verdursten.«
Kann man mir daraus einen Vorwurf machen? Wir laden gewisse Vorstellungen nicht ein, in unseren Köpfen Platz zu nehmen, und weisen andere ab. Ich denke, dass ein Mensch für seine Taten geradestehen muss, nicht aber für den Inhalt seiner Gedanken. Ich muss mir lediglich vorwerfen, zugelassen zu haben, dass sich meine Gedanken in Worte verwandelten. Ich saß neben Mary Ann. Ich war diejenige, an die sie sich mit ihrem Gejammer und ihrer Heulerei wandte. Als sie sich gefasst und ihre Sinne wieder beisammen hatte, behauptete sie, sie hätte einen verstörenden Traum gehabt, in dem sie sich ins Meer gestürzt und uns alle auf diese Weise gerettet habe.
»Zehn Minuten!«, schrie Hardie. Ich zählte sechzig Sekunden ab und sagte dann: »Neun«, mehr zu mir selbst als zu Mary Ann. Mr Preston wurde ganz aufgeregt. »Die Männer!«, schrie er. »Alle Männer sollten nach hier hinten kommen!«
»Wozu denn?«, fragte Mr Nilsson, und Mrs Grant sagte: »Es muss einen anderen Weg geben.« Aber dann schwieg sie und machte sich mit dem Eimer, den sie jemand anderem aus der Hand genommen hatte, ans Ausschöpfen des Bootes.
»Hardie hat recht! Wir Männer müssen Lose ziehen, um zu bestimmen, wer über Bord geht!«, rief Mr Preston mit schriller und zitternder Stimme, genau in dem Moment, in dem Hardie verkündete: »Acht Minuten.« Ein blitzartiger Schrecken durchfuhr mein Innerstes; gleichzeitig war mir, als streife er mich nur im Vorbeifliegen. Ich war in der Lage, ihn zu studieren, wie ich meine klappernden Zähne analysierte, das Sperrfeuer des Regens auf meinem Gesicht, das Rinnsal aus Wasser, das beständig in meinen Kragen und über meinen Nacken floss, das unruhige Flattern meines Herzens.
Nilsson fragte: »Warum die Männer? Warum nur die Männer?«
Mary Ann fragte: »Was ist mit den Frauen? Haben sie tatsächlich vor, uns über Bord zu werfen?«
Ich sagte: »Natürlich nicht. Was glauben Sie denn? Aber ich bezweifele, dass sie eine Frau davon abhalten würden, sich freiwillig zu opfern.« Damals war mir nicht bewusst, wie fest wir beide an ein kollektives »Sie« glaubten, an eine Gruppe von Entscheidungsfindern, die in der Machthierarchie einen Platz über uns einnahmen, ein »Sie«, das Entscheidungen fällte, Ruhm und Ehre einfuhr, falls es die richtigen Entscheidungen waren, und die Konsequenzen trug, falls sie sich als falsch erwiesen. Mary Ann jedenfalls war unsagbar erleichtert, dass niemand von ihr verlangte, die Heldin zu spielen, und sie schob ihre nutzlose kleine Hand vertrauensvoll in meine.
Wie durch Zauberei erschienen in Hardies Faust eine Reihe von Holzsplittern. »Nur die Männer«, erklärte er. »Zwei Splitter sind kurz, sechs lang. Die kurzen verlieren.« Ich weiß nicht, warum wir glaubten, dass zwei Leute weniger im Boot einen Unterschied machen würden, aber wir zweifelten nicht eine Sekunde daran. Wenn Hardie sagte, dass die Zwei die magische Zahl war, dann war es die Zwei. Wir dachten, Hardie wüsste Bescheid.
Eine Minute verging. Die schwarze Linie aus aufgewühltem Wasser war nur noch etwa fünfundzwanzig oder dreißig Bootslängen weit entfernt. In der Ferne zerrissen gezackte Blitze den brodelnden Himmel.
»Ich zwinge niemanden«, sagte Hardie. Dann zog er selbst einen Splitter. Er betrachtete ihn ohne großes Interesse, aber ich erkannte anhand der Gesichter von jenen, die in seiner Nähe saßen, dass der Splitter lang war. Mr Nilsson zog als Nächster, und der leere Blick seiner Augen sprach dafür, dass er sich nicht darüber im Klaren war, was er tat.
Colonel Marsh handelte stoisch
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