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In einem Boot (German Edition)

In einem Boot (German Edition)

Titel: In einem Boot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Rogan
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und mit gestrafften Schultern, als die Reihe an ihm war, aber Michael Turner machte einen Witz: »Ich habe noch nie etwas gewonnen. Vielleicht klappt es diesmal.« Er war einer derjenigen, die keine Schwimmweste trugen, wodurch er dünner und schwächer wirkte, als er in Wahrheit war. Kaum hatte er sein Holzstück gezogen, stand er auf, lachte wie ein Wahnsinniger und sprang aus dem Boot. Jetzt waren noch vier Splitter übrig. Einer davon war kurz. Ich sah, wie Mr Preston erleichtert ausatmete, als er seinen Splitter betrachtete, aber der Diakon befand sich offenbar am Rande einer Panik, als er an der Reihe war. Nur noch er, Sinclair und Hoffman waren übrig. Hoffman zuckte nur mit den Schultern und nahm einen Splitter, während er Hardie aus schmalen Augen fixierte. Wieder hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas Vertrauliches zwischen ihnen vorging. »Gott helfe uns«, sagte der Diakon. Er kniete sich auf den Boden, das Gesicht Hardie zugewandt, den Rücken zu uns anderen, die ineinander verschränkten Hände in den Himmel gereckt. »Oh Herr!«, heulte er. »Ich bin willens, mich für deine lieben Kinder zu opfern, aber warum fällt es mir so schwer?« Verzweifelt schaute er hinaus auf die Wellen, eine bebende Personifizierung der Angst. Vielleicht dämmerte ihm auch die Tatsache, dass »liebe Kinder« nicht die passende Bezeichnung für die Insassen dieses Bootes waren. Ich hielt mir die Ohren zu, damit ich ihn nicht hören musste, und drängte mich mit aller Macht an Mary Ann. Jetzt zeigten sich die Gebeine unserer wahren Natur. Keiner von uns war die Spucke in seinem Mund wert. Wir waren jeglicher Anständigkeit beraubt. In uns war nichts Gutes oder Edles mehr, seit man uns die Nahrung und den Schutz genommen hatte.
    Der Diakon blickte mit unendlicher Traurigkeit zu Mr Sinclair hin und nahm dann die beiden restlichen Splitter. »Ob das wohl als Selbstmord gilt?«, hörte ich ihn fragen. »Werde ich wohl jemals ins Paradies eingehen?« Er drehte sich um, klopfte Mr Sinclair auf die Schulter und legte die beiden Splitter in dessen offene Hand, wo sie sofort vom Wind verweht wurden. Langsam erhob sich der Diakon und sagte: »Der gütige Gott segne und bewahre euch alle.« Dann löste er seine Schwimmweste, warf sie Mr Hardie zu, sprang ins Wasser und ging unter wie ein Stein. Mr Sinclair schrie ihm nach: »Kommen Sie zurück! Das war mein Splitter!«, aber niemand achtete auf ihn. Und als Mr Sinclair sich mit seinen ungeheuer starken Armen hochhievte und sich über das Dollbord wuchtete, machte niemand den Versuch, ihn aufzuhalten. Das Schlimmste an diesem Opfer war, dass es unseretwegen geschah, für Leute wie uns. Doch meine Gedanken wurden gleich darauf von etwas anderem gefangen genommen. Der Sturm kam über uns.

Zehnter Tag, Nachmittag
    Nun wusste ich, warum Mr Hardie behauptet hatte, der Wind sei bis dahin nicht mehr gewesen als eine Brise, aber ich glaube, selbst er war auf die Gewalt, die uns packte, nicht vorbereitet. Das kleine Boot wurde von Wellen, die so groß waren wie Ozeanriesen, wie eine Nussschale hin und her geworfen. Ich dachte an den Diakon und an Mr Sinclair und daran, dass Hardie nicht hätte zum Mörder werden müssen – ja, das ist das Wort, an das ich dachte –, denn ich war davon überzeugt, dass die Anzahl der Insassen im Boot kaum eine Rolle spielte. Wir würden alle sowieso nur noch wenige Sekunden durchhalten. Was ich am meisten bedauerte, war die Tatsache, dass ich in meinen letzten Minuten auf dieser Welt meinen Glauben an das Gute in den Menschen verloren hatte. Zweiundzwanzig Jahre lang war meine Sicht auf die menschliche Natur unerschütterlich gewesen, und ich hatte gehofft, diese Überzeugung mit ins Grab zu nehmen. Ich wollte glauben, dass alle Menschen das bekommen konnten, wonach sie verlangten, dass es keinen grundlegenden Konflikt zwischen konkurrierenden Interessen gab und dass Tragödien, wenn sie überhaupt passieren mussten, sich der menschlichen Kontrolle entzogen.
    Über all das dachte ich an diesem Nachmittag nach, aber nur unzusammenhängend und fahrig. Das Boot bockte und rollte, erklomm schwindelerregende Wellenkämme und sackte in tiefe Höllenschlunde, sodass wir ringsum von mächtigen Wänden aus schwarzem Wasser eingeschlossen waren. Mr Hardie und Mr Nilsson nahmen jeweils ein Ruder, während der Colonel und Mr Hoffman sich gemeinsam mit einem dritten abmühten. Zusammen versuchten sie tapfer, den Bug in den Wind zu halten, denn uns blieb nur eine Hoffnung:

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