In einer anderen Welt (German Edition)
warum Morwenna das machen lassen soll, wenn sie nicht möchte«, sagte er. »Sie kann eine Weile warten und es in ein oder zwei Jahren machen lassen.«
»Wir haben bereits einen Termin vereinbart.«
»Sonst kann sie Mutters Ohrringe nicht tragen.«
»Wir wollten sie in unserer Familie willkommen heißen.«
Sie klangen so verdammt vernünftig und erwachsen, und ich wusste, dass ich unvernünftig und kindisch klang. »Bitte«, sagte ich. »Nicht meine Ohren.«
»Sie hat Angst«, sagte Daniel. »Die Ohrringe können warten. Sie braucht sie jetzt noch nicht.«
»Du bestärkst sie nur in ihrem törichten Verhalten.«
»Sie würden wirklich allerliebst aussehen, vor allem jetzt, nachdem ihre Haare etwas länger geworden sind.«
»Es tut nur ganz kurz weh.«
Daniel wirkte sichtlich verwirrt. Er ist ein schwacher Mensch, und er ist es nicht gewohnt, sich gegen seine Schwestern zu behaupten. Das ist eine völlig neue Situation für ihn. Sie haben die Kontrolle über sein Leben an sich gerissen, als er noch jung war, und wahrscheinlich haben sie ihn die ganze Zeit mit Magie beeinflusst. Allerdings glaube ich, dass sie das in aller Stille getan haben, nicht direkt. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht wollten sie keine Marionette aus ihm machen. Vielleicht wollten sie, dass er sie liebt. Nicht viele Leute lieben Hexen. Schaut euch meine Mutter an! Niemand liebt sie. Sie haben einander, aber genügte das? Ich schluchzte und sah ihn flehentlich an, weil er das Einzige ist, das zwischen mir und ihnen steht.
»Das eilt doch bestimmt nicht«, sagte er.
»Ich lass das nicht mit mir machen«, sagte ich, schnappte mir meine Bücher und rannte nach oben.
»Typisch Teenager, so ein Trotzanfall«, sagte eine von ihnen.
»Du musst streng mit ihr sein, Daniel.«
»Sie ist es gewohnt, dass alles nach ihrem Willen geht.«
Die Tür lässt sich nicht abschließen, aber ich habe einen Stuhl davorgestellt, damit niemand reinkommen kann. Sie sind hochgekommen und haben mich gebeten, zum Weihnachtsessen nach unten zu kommen, aber ich bin nicht gegangen. Es ist sowieso bestimmt verkocht und trocken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich wieder weglaufen? Letztes Mal hat es geklappt, jedenfalls fast. Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Eigentlich wirken sie ganz vernünftig, aber das tut Liz auch, wenn man sie nicht kennt. Sie möchten mich in ihre Gewalt bekommen. Sie möchten mich daran hindern, Magie zu wirken. Dabei will ich das gar nicht – das habe ich sogar geschworen. Außer um mich oder jemand anderes vor einer Gefahr zu beschützen. Und das ist eindeutig eine Gefahr. Sie wollen mich verstümmeln! Als wäre mein Bein nicht schon schlimm genug, aber das ist gar nichts. Wenn ich Ohrringe tragen würde, könnte ich keine Feen mehr sehen. Ich weiß nicht, ob sie dann Gewalt über mich hätten, aber die Löcher würden dem allem ein Ende setzen. Wenn es stimmt, dass alle in meiner Generation sich das machen lassen, dann bedeutet das, dass eine ganze Generation von Frauen keine Feen sieht. Das klingt nicht so schlimm, eher wie eine Impfung, ein kleiner Stich, und schon ist alles Arkane verschwunden. Aber es ist schlimm, weil es, wie bei der Impfung, nur dann funktioniert, wenn alle es machen lassen. Die Tanten weigern sich jedoch, und niemand wird sie mehr aufhalten können.
Und überhaupt, auch wenn die meisten Leute sowieso keine Feen sehen können, weil sie nicht an sie glauben, ist nichts verkehrt daran, wenn man sie sieht. Manche Feen gehören zum Schönsten, was ich je gesehen habe.
Wahrscheinlich könnte ich aus dem Fenster steigen, obwohl es da keinen geeigneten Baum gibt wie in der Schule. Oder ich könnte nachts, während sie schlafen, einfach zur Hintertür rausgehen. Ich habe eine Landkarte. Aber es ist Weihnachten, und da fahren keine Züge, und morgen auch nicht. Außerdem habe ich kein Geld, ich habe alles für Geschenke ausgegeben. Ich habe noch 24 Pence. Daniel würde mir vermutlich welches geben, aber wahrscheinlich will er nicht hören, wie jemand etwas gegen sie sagt, wahrscheinlich kann er es buchstäblich nicht hören. Außerdem ist er mein Vater und mein gesetzlicher Vormund. Als ich von zu Hause weggelaufen bin und sie mich in ein Heim gesteckt haben, war er es, den sie aufgetrieben haben. Wohin sollte ich jetzt auch gehen? Opa ist wahrscheinlich wieder im Krankenhaus, und sie würden mir bestimmt nicht erlauben, bei ihm zu wohnen oder bei Tantchen Teg. Ich könnte trotzdem versuchen, mich bei ihr zu
Weitere Kostenlose Bücher