In einer anderen Welt (German Edition)
verstecken, aber bei ihr würde Daniel als Allererstes suchen. Der Rest der Familie hat mich schon mal enttäuscht, sie wussten über Liz Bescheid, und sie fanden es trotzdem in Ordnung, mich bei ihr zu lassen. Ich werde erst im Juni sechzehn, und bis dahin sind es noch sechs lange Monate, und wo soll ich alleine hin ohne Sozialversicherungsnummer, schließlich sehe ich auch noch jünger aus, als ich bin.
Ich muss einfach heute und morgen noch durchhalten, und dann kann ich nach Südwales und mit Tantchen Teg reden und mit Glorfindel und mir überlegen, was ich tun soll. Wenn sie mich in Ruhe lassen würden, käme ich in der Schule schon klar, wenigstens dieses eine Jahr. Mit sechzehn darf man alleine wohnen. Ich könnte das probieren, was Janine erzählt hat, mir einen Job suchen und meinen Schulabschluss nebenher machen, wie Wim. Das wäre klasse.
Offenbar machen sie alles in der Küche und in ihren Zimmern, dem Teil des Hauses, den ich nie zu sehen bekomme. Ich muss in Daniels Nähe bleiben. Er hält mich für unvernünftig und hysterisch, aber er wird mir meinen Willen lassen. Er ist gar nicht so übel. Ich glaube, er mag mich sogar. Jetzt sitzen sie da unten und essen und trinken, und ich gehe gleich runter und entschuldige mich, weil ich mich so danebenbenommen habe, aber die Vorstellung, mir die Ohren durchstechen zu lassen, macht mir entsetzliche Angst, und wenn sie mir versprechen, es nie wieder zu erwähnen, verspreche ich ihnen, dass ich nie wieder aus dem Zimmer laufe und mich in meinem Zimmer verbarrikadiere. Wenn es sein muss, verspreche ich ihnen, dass ich gleich von hier weggehe und sie, wenn es erst einmal Juni ist, nie wieder behellige. Schließlich zahlen sie mein Schulgeld, nicht Daniel. Ich könnte ihnen vorschlagen, dass ich es ihnen zurückzahle, sobald ich kann.
Ich bin mir nicht völlig sicher, dass sie wissen, dass ich Bescheid weiß – ich meine, ich weiß, dass das nicht nur eine irrationale Furcht ist. Vor Daniel werden sie tun, als würden sie zustimmen. Daniel ist ihr Schwachpunkt. Außerdem können sie vor Donnerstag nichts tun. Tief Luft holen. Ich gehe jetzt nach unten.
Mittwoch, 26. Dezember 1979
Andererseits, woher weiß ich, dass sie wirklich böse sind? Warum gehe ich automatisch davon aus? Vielleicht sind sie genau das, was sie zu sein scheinen, nur eben mit ein wenig Magie, und über mich wissen sie rein gar nichts, außer dem, was offensichtlich ist. Vielleicht wollen sie nur eine nette Nichte aus mir machen.
Ich weiß, dass mir jegliche Magie abhandenkommen würde, wenn ich mir diese Löcher stechen lasse. Das wissen sie bestimmt auch, sonst wären sie nicht so unnachgiebig, aber ich weiß nicht, ob sie wissen, dass ich über Magie Bescheid weiß. Die meisten Menschen haben davon keine Ahnung. Für die meisten Menschen wäre es kein Verlust. Auch wenn es nur die Mädchen trifft, die Jungs lassen sich die Ohren nicht durchstechen. Können Männer Magie wirken? Bestimmt, aber bisher habe ich noch keinen kennengelernt. Was ich über das Impfen gedacht habe, vielleicht sehen sie das ebenso, vielleicht wollen sie mich vor der Versuchung schützen, Magie zu wirken. Ich habe gedacht, die Ohrringe wären dazu da, um ihnen Macht über mich zu geben, aber vielleicht sollen sie nur dafür sorgen, dass ich mehr so werde wie alle anderen. Sie haben einen zahmen Bruder. Vielleicht wollen sie eine zahme Nichte. Wenn das so ist, erlauben sie mir wahrscheinlich, zurück in die Schule zu gehen, und versuchen es erst in den nächsten Ferien oder sogar erst an Ostern. Schließlich möchten sie, dass ich mich in Arlinghurst aufhalte. Die Schule ist gegenüber jeglicher Magie isoliert, wie mir gleich aufgefallen ist, und ich werde sowieso die Finger davon lassen.
Ich möchte selbst wieder in die Schule zurück, auch wenn es da idiotisch ist und das Essen furchtbar, und nie ist man für sich, aber ich habe angefangen, mir dort eine Karass aufzubauen. Ich habe den Buchclub, ich habe die Bibliothek – beide Bibliotheken. Alles andere kann ich ertragen. Schließlich ertrage ich es schon länger. Und ich möchte meinen einjährigen Abschluss machen, vielleicht sogar den zweijährigen. Ich möchte auf die Universität gehen und endlich Leute kennenlernen, mit denen ich reden kann. Oma hat gesagt, dass ich dort Gleichgesinnte finden würde, und das ist jede Anstrengung wert. Das hat sie immer gesagt, wenn ich beim Mathe büffeln oder beim Lateinvokabeln auswendig lernen den Mut verlor. Selbst
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