In einer anderen Welt (German Edition)

wenn ich nur das Einjährige schaffe, na ja, ein Abschluss ist das auch. Ohne wird man sowieso für einen Idioten gehalten und bekommt nur Idiotenjobs. Als Dichter spielt das keine Rolle, dafür gibt es keine Prüfung, aber ich werde etwas brauchen, um Essen im Ofen zu haben, und mir wäre es lieber, meine Arbeit macht mir Spaß. Also mindestens das Einjährige. Entweder gehe ich nach Arlinghurst zurück, was bedeutet, dass ich mich nicht mit meinen Tanten zerstreite und sie das Schulgeld weiter bezahlen, oder ich suche mir irgendwo eine andere Schule.
    Jedenfalls, gestern.
    Ich bin nach unten gegangen und habe mich entschuldigt, dass ich weggerannt bin – oder eher weggehumpelt. Ich erklärte ihnen, ich wüsste es ja zu schätzen, dass sie es gut mit mir meinten, aber die Vorstellung, mir die Ohren durchstechen zu lassen, würde mir furchtbare Angst einjagen – das hätten sie doch bestimmt bemerkt. Sie versuchten nicht mehr, mich zu überreden, und das Kästchen mit den Ohrringen war bereits verschwunden. Sie sagten, wir würden alles vergessen, und sie brachten mir einen Teller mit kaltem Truthahn und Füllung, trockenes Zeug, aber nicht allzu grässlich. Dann spielten wir Monopoly, und eine von ihnen gewann, obwohl ich ihnen ordentlich Paroli bot.
    Das Seltsame am Monopoly war, dass man merkte, wie lange sie schon zusammen spielten, die vier Geschwister. Sie hatten alle Lieblingsspielfiguren, die sie sich gleich schnappten. Ihre Spielfiguren – manchmal bewegte ich sie auf meiner Seite ein paar Felder weiter, damit sich niemand über den Tisch beugen musste – waren voller Magie, so oft waren sie schon benutzt worden. Dank der Spielfiguren konnte ich sie zum ersten Mal auseinanderhalten. Sie kleiden sich alle gleich, aber der Hund, der Rennwagen und der Zylinder kennen sie genau. Außerdem war noch seltsam, wie wir da saßen, als wären wir eine ganz normale Familie, was aber nicht stimmt, weil ich nicht hierher gehöre, aber selbst ohne mich sind sie das nicht. Eine normale Familie besteht aus unterschiedlichen Generationen, aber sie stammen alle aus derselben. In normalen Familien ist ein Teil verheiratet, und von ihnen hat Daniel als Einziger geheiratet, und schaut euch an, wen er sich ausgesucht hat! Normale Familien bestehen nicht nur aus vierzigjährigen Kindern, die jetzt das Sagen haben, ohne erwachsen geworden zu sein. Während des Spiels gab es Momente, da haben sie miteinander gestritten, und ich hatte das Gefühl, am Tisch die Älteste zu sein.
    Hinterher gab es Weihnachtskuchen, aber ich habe mit meinem nur auf dem Teller herumgekrümelt, denn das wäre das Naheliegendste, um Magie zu wirken, weil es mit wirklich allem in Zusammenhang steht. Ich mag sowieso keinen Obstkuchen, außer den von Tantchen Bessie. Dann bin ich Daniel in sein Arbeitszimmer gefolgt und habe mich mit ihm über die Bücher unterhalten, die er mir geschickt hat, vor allem über Der Wüstenplanet . Arrakis ist eine wirklich tolle Welt. Man hat sofort den Eindruck, dass sie real ist, mit den ganzen verschiedenen Kulturen. In der SF prallen Kulturen nur selten aufeinander, dabei ist das wirklich interessant. Als Paul in die Wüste zu den Fremen geht, wird er mit einer ihm fremden Kultur konfrontiert, und beide Seiten haben Geheimnisse voreinander. Daniel wurde richtig lebhaft, während wir darüber redeten, und obwohl er sich ein Glas Whisky eingeschenkt hatte, nippte er kaum daran. Natürlich rauchte er die ganze Zeit. Er fragte mich, was ich gelesen hatte, und wie es in dem Buchclub war, und was ich mir gerne von ihm leihen würde, und ich sagte nie: »Hast du gewusst, dass deine Schwestern Hexen sind?«, und er sagte nicht: »Warum bist du denn wegen den Ohrringen so ausgerastet?« Wir sagten diese Dinge nicht, aber das so laut, dass man sie fast hören konnte.
    Dann kam ich auf Sam zu sprechen, und das tat ihm sichtlich gut. Offenbar ist Sam gegen sie gefeit, vielleicht wegen seiner Religion? Aber für Daniel ist Sam ein Ruhepunkt, etwas, worauf er sich verlassen kann. Je länger ich mich mit ihm unterhielt, umso mehr fragte ich mich, inwieweit sie ihn in ihrer Gewalt hatten – worüber konnte er nicht reden, was veranlasste ihn, zur Flasche zu greifen? Sie haben einen zahmen Bruder. Sie haben jemanden, der sich um ihr Vermögen und um das Anwesen kümmert. In dem Moment verfiel ich auf den Gedanken, dass sie vielleicht nur eine zahme Nichte haben wollten. Denn wenn sie keine bösen Hexen sind, die die Weltherrschaft