In einer Familie
machen
würde.
Hierfür konnte auch diese Frau als Beweis gelten,
die mehr als andere gewöhnt war, sich in einsamen
Stunden mit sich selbst zu beschäftigen und ihr In-
nenleben auszuhorchen.
Frau v. Grubeck blieb auch jetzt allein, nachdem
ihr Gatte sich mit seinen Kindern in sein »Atelier«
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begeben, wo Wellkamp in seine Malstudien, die
Frucht einer mit Eifer geübten Beschäftigung des al-
ten Herrn, Einsicht nehmen sollte. Als die drei das
Zimmer verlassen, erschien der Diener, um das
Theeservice abzuräumen. Dann störte niemand
mehr die Herrin des kleinen Gemaches, von dessen
in dunklen Farben gehaltener und dämmerig be-
leuchteter Ausstattung sich ihre weißgekleidete Ge-
stalt seltsam abhob, wie sie ohne Bewegung, in un-
veränderter, graziös-nachlässiger Haltung in ihren
Sessel gelehnt, dasaß.
Von der Majolikaplatte der Konsole, aufweiche die
junge Frau unverwandt ihren Blick gerichtet hielt,
klang das feine, durchdringende Ticken einer Minia-
tur-Stutzuhr. Ringsumher standen auf Schreibtisch
und Etagèren die unzähligen kleinen Zwecklosigkei-
ten, die scheinbar so nichtssagend sind, während sie in
Wahrheit gleichsam den Niederschlag eines feinen
und eleganten Frauenlebens bedeuten. Auf das vor
der Dame stehende arabische Tabouret hatte der Die-
ner den gelben Romanband gelegt, welcher unter den
auf dem größeren Mitteltisch umhergestreuten durch
ein Lesezeichen als der zur Zeit im Gebrauch befind-
liche angedeutet gewesen war. Frau v. Grubeck
pflegte die Stunden bis gegen ein Uhr mit Lektüre
auszufüllen. Nach dem Frühstück ruhte sie und un-
ternahm zuweilen eine Ausfahrt, um von fünf Uhr ab
ihre Zeit der Toilette für das um sieben Uhr stattfin-
dende Diner zu widmen. Der Abend, ein langausge-
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dehnter Abend, sah sie wieder an ihrem gewohnten
Platze in ihrem Boudoir, wenn sie nicht, was selten
genug geschah, für die letzten Akte in die Oper fuhr.
Eine andere Abwechslung brachten ihre Tage kaum
mit sich. Und dies war nicht das Leben einer Greisin,
sondern dasjenige einer Frau von nicht ganz achtund-
zwanzig Jahren.
Dora Linter stammte väterlicherseits aus einer
deutsch-jüdischen, seit zwei Generationen getauften
Familie. Ihr Vater hatte in Rio de Janeiro, wo er sein
Vermögen gemacht, eine gefeierte Dame der dorti-
gen Gesellschaft, eine Kreolin, geheiratet. In früher
Kindheit mutterlos geworden, war Dora ohne viel
andere Gesellschaft als die ihrer Dienerinnen aufge-
wachsen. Und während das bei seiner auffallenden
lichten Blondheit eigentümlich stille und indiffe-
rente Mädchen von frühauf an das unthätige, bloß
vegetierende Dasein der südamerikanischen Damen
gewöhnt wurde, wuchs zugleich ihre Verschlossen-
heit und ihr Trotz. Körperlich und geistig schnell
entwickelt, wie sie nach Art der dortigen jungen
Mädchen war, schien es nicht ausbleiben zu können,
daß sich früh das südländische Blut in ihr zu regen
begänne. Gleichwohl befand sie sich bis fast an ihr
sechzehntes Jahr in einem Zustande der seelischen
Unberührtheit und Ahnungslosigkeit, dessen sie
sich später, in den Leiden ihrer durch streitende
Triebe gebrochenen Natur, häufig mit schmerz-
lichem Neide erinnerte. Daß das junge Mädchen so
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lange in ihrem Sinnenleben ein Kind blieb, mochte
nicht zum kleinsten Teil der religiösen Erziehung zu
danken sein, der einzigen gründlichen, welche sie
überhaupt erhielt, und welche zu frühe Wünsche mit
sanfter Hand zurückhielt, während sie zugleich dem
Gefühlsleben der Heranwachsenden ihre reiche
Nahrung zuführte.
So kam es, daß der erste männliche Umgang, der
nach einer fast gänzlich abgeschlossen verlebten
Kindheit an sie herantrat, eine eigentümliche Wir-
kung auf Dora übte. Anfangs empfand sie nichts als
Schüchternheit und Furcht vor etwas Unbekanntem.
Der junge Mann, ein Angestellter ihres Vaters, den
dieser, da er aus guter englischer Familie war, häufig
in seine Häuslichkeit einlud, wurde dadurch verlei-
tet, sie als kleines Mädchen zu behandeln. Er gestat-
tete sich ihr gegenüber, in scheinbar spielender
Weise, von Anfang an mehr, als er ohne ihre verle-
gene Haltung gethan hätte. Letztere verlor sich nur
zu bald. Das junge Mädchen begann zwar nicht zu
empfinden, aber zu begreifen. Zugleich stellte sich
bei ihr die Lust ein, seine Überlegenheit in ihrem
Verkehr zu brechen. So machte sie ihm nun kleine,
scheinbar bedeutungslose Zugeständnisse, um
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