In einer Familie
jenen
Erfahrungen fühlte sie sich ihrer selbst nicht mehr
mächtig; es stand immer vor ihrer Seele, daß sie im
Begriffe gewesen, sich zu vergessen. Und während
ihr der Gedanke an das Schicksal, dem sie kaum ent-
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gangen, bei allem Reizungsbedürfnisse einen kör-
perlichen Widerwillen verursachte, bäumten sich
neben ihrem ausgeprägten religiösen Pflichtgefühl
auch die sorgsam gepflegten Begriffe der gesell-
schaftlichen Sitte in ihr auf. Der Gedanke an die
Möglichkeit einer abermaligen Versuchung machte
sie scheu und ließ sie sich fortan alsbald zurückzie-
hen, wo sie eine beginnende größere Vertraulichkeit
zu bemerken meinte. Es vergingen darüber mehrere
Jahre, während welcher ihre immer mehr auffal ende
Verschlossenheit und ihre Neigung, den gesellschaft-
lichen Verkehr nach Möglichkeit einzuschränken,
ihren Vater mit Besorgnis erfüllte. Um durch eine
Veränderung ihres Aufenthaltsortes vielleicht eine
günstige Einwirkung auf das Wesen seiner Tochter
zu gewinnen, und um ihre Zukunft nach seinen
Wünschen ordnen zu können, beschloß Herr Linter
nunmehr, die auch aus geschäftlichen Rücksichten
schon geplante Übersiedelung nach New-York aus-
zuführen.
In der That durfte sich Dora nach ihrem Eintritt
in die dortige Gesellschaft, in welcher sie dank ihrer
überlegenen Erscheinung und dem väterlichen Ver-
mögen alsbald eine ausgezeichnete Stellung ein-
nahm, gestehen, daß sich die frühere Gefahr für sie
stark verringert habe. Nachdem sie in der Stil e ihrer
Zurückgezogenheit genug unter den Widersprüchen
ihrer Natur gelitten, hatten in dem Kampfe des sinn-
lichen Verlangens, das jene Episode mächtig aufge-
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regt, mit ihren kühlen und reflektierenden Geistes-
anlagen die letzteren den Sieg davongetragen. In ih-
ren einsamen Grübeleien war sie dahin gelangt, ihre
Beschäftigung mit den Beziehungen der Geschlech-
ter aus ihrem Blute fast völlig in ihr Hirn zu ver-
pflanzen. Sie war in der Stille eine Meisterin in der
Kunst des flirt geworden, jener unfruchtbaren Abart
des Kampfes der Geschlechter, welche zugleich, in
ihrem eigentlichen Sinne gehandhabt, die für den
Angreifer ungefährlichste ist. Dora Linter war voll-
kommen in der Fertigkeit, den Grad, bis zu welchem
sich der Gegner vorgewagt, zu beaufsichtigen, um
ihr Verhalten ihm gegenüber dementsprechend ein-
zurichten. Mochte sie nun im einzelnen Falle offen
angreifen oder sich zu verteidigen scheinen, mochte
sie sich ihm etwa als teilnehmende Freundin zeigen
oder ihn eine sentimentale Neigung ahnen lassen,
immer sah sie am Ende ihre Absicht, den Mann lei-
den zu machen, erreicht. Vielleicht brauchte man sie
im Grunde kaum ungünstiger zu beurteilen als an-
dere Frauen, denen ihre Natur die Befriedigung ih-
rer, stets selbstsüchtigen, Sinne auf andere Weise
vorschrieb. Jedenfalls aber begann nach den ersten
Jahren ihres gesel schaftlichen Lebens das rätselhafte
und grausame Wesen ihres Umganges, die Verehrer
von ihr fern zu halten. Dies verstärkte wiederum
ihre natürliche Bitterkeit und Unlust, indem es ihr
vor Augen führte, daß man ihre Art zu leben unlieb-
sam und unumgänglich fand. Es begann an diesem
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Zeitpunkte in ihrem Gesicht bereits der den Frauen
des Südens früh eigene languide Zug hervorzutre-
ten, der zwar fürs erste ihrer Schönheit einen neuen,
wunderlichen Reiz hinzufügte. Ihrem Vater, der in
letzter Zeit häufiger seine Besorgnis laut werden
ließ, auch hier seine Absichten in betreff ihrer Zu-
kunft nicht verwirklicht zu sehen, gestand Dora in
dem ihr im Verkehr mit ihrem einzigen nahen Ver-
wandten gewohnten eigentümlich spöttisch-gleich-
giltigen und ein wenig an Cynismus erinnernden
Ton, daß allerdings jetzt weniger als je die Aussicht
einer Heirat für sie vorhanden sei. Auch war es nur
zum Teil Eitelkeit und viel wirkliche Entschlossen-
heit, was sie betonen ließ, daß sie kaum noch die
Neigung haben könne, einem dieser Männer die
Hand zu reichen, die sie in einer fast zehnjährigen
gesellschaftlichen Laufbahn zu deutlich kennen ge-
lernt, um noch die einem Verlobten gegenüber gewiß
erforderlichen Illusionen zu besitzen.
Nach einer besonders ausführlichen Besprechung
dieser Art ergriff Herr Linter, Geschäftsmann von ra-
schem Entschluß wie er war, das immer noch erüb-
rigende und anerkannt wirksame Mittel, sich seiner
Vaterpflichten zu entledigen: eine Reise nach Europa.
Nach mehrmonatlichem
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