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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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jenen
    Erfahrungen fühlte sie sich ihrer selbst nicht mehr
    mächtig; es stand immer vor ihrer Seele, daß sie im
    Begriffe gewesen, sich zu vergessen. Und während
    ihr der Gedanke an das Schicksal, dem sie kaum ent-
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    gangen, bei allem Reizungsbedürfnisse einen kör-
    perlichen Widerwillen verursachte, bäumten sich
    neben ihrem ausgeprägten religiösen Pflichtgefühl
    auch die sorgsam gepflegten Begriffe der gesell-
    schaftlichen Sitte in ihr auf. Der Gedanke an die
    Möglichkeit einer abermaligen Versuchung machte
    sie scheu und ließ sie sich fortan alsbald zurückzie-
    hen, wo sie eine beginnende größere Vertraulichkeit
    zu bemerken meinte. Es vergingen darüber mehrere
    Jahre, während welcher ihre immer mehr auffal ende
    Verschlossenheit und ihre Neigung, den gesellschaft-
    lichen Verkehr nach Möglichkeit einzuschränken,
    ihren Vater mit Besorgnis erfüllte. Um durch eine
    Veränderung ihres Aufenthaltsortes vielleicht eine
    günstige Einwirkung auf das Wesen seiner Tochter
    zu gewinnen, und um ihre Zukunft nach seinen
    Wünschen ordnen zu können, beschloß Herr Linter
    nunmehr, die auch aus geschäftlichen Rücksichten
    schon geplante Übersiedelung nach New-York aus-
    zuführen.
    In der That durfte sich Dora nach ihrem Eintritt
    in die dortige Gesellschaft, in welcher sie dank ihrer
    überlegenen Erscheinung und dem väterlichen Ver-
    mögen alsbald eine ausgezeichnete Stellung ein-
    nahm, gestehen, daß sich die frühere Gefahr für sie
    stark verringert habe. Nachdem sie in der Stil e ihrer
    Zurückgezogenheit genug unter den Widersprüchen
    ihrer Natur gelitten, hatten in dem Kampfe des sinn-
    lichen Verlangens, das jene Episode mächtig aufge-
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    regt, mit ihren kühlen und reflektierenden Geistes-
    anlagen die letzteren den Sieg davongetragen. In ih-
    ren einsamen Grübeleien war sie dahin gelangt, ihre
    Beschäftigung mit den Beziehungen der Geschlech-
    ter aus ihrem Blute fast völlig in ihr Hirn zu ver-
    pflanzen. Sie war in der Stille eine Meisterin in der
    Kunst des flirt geworden, jener unfruchtbaren Abart
    des Kampfes der Geschlechter, welche zugleich, in
    ihrem eigentlichen Sinne gehandhabt, die für den
    Angreifer ungefährlichste ist. Dora Linter war voll-
    kommen in der Fertigkeit, den Grad, bis zu welchem
    sich der Gegner vorgewagt, zu beaufsichtigen, um
    ihr Verhalten ihm gegenüber dementsprechend ein-
    zurichten. Mochte sie nun im einzelnen Falle offen
    angreifen oder sich zu verteidigen scheinen, mochte
    sie sich ihm etwa als teilnehmende Freundin zeigen
    oder ihn eine sentimentale Neigung ahnen lassen,
    immer sah sie am Ende ihre Absicht, den Mann lei-
    den zu machen, erreicht. Vielleicht brauchte man sie
    im Grunde kaum ungünstiger zu beurteilen als an-
    dere Frauen, denen ihre Natur die Befriedigung ih-
    rer, stets selbstsüchtigen, Sinne auf andere Weise
    vorschrieb. Jedenfalls aber begann nach den ersten
    Jahren ihres gesel schaftlichen Lebens das rätselhafte
    und grausame Wesen ihres Umganges, die Verehrer
    von ihr fern zu halten. Dies verstärkte wiederum
    ihre natürliche Bitterkeit und Unlust, indem es ihr
    vor Augen führte, daß man ihre Art zu leben unlieb-
    sam und unumgänglich fand. Es begann an diesem
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    Zeitpunkte in ihrem Gesicht bereits der den Frauen
    des Südens früh eigene languide Zug hervorzutre-
    ten, der zwar fürs erste ihrer Schönheit einen neuen,
    wunderlichen Reiz hinzufügte. Ihrem Vater, der in
    letzter Zeit häufiger seine Besorgnis laut werden
    ließ, auch hier seine Absichten in betreff ihrer Zu-
    kunft nicht verwirklicht zu sehen, gestand Dora in
    dem ihr im Verkehr mit ihrem einzigen nahen Ver-
    wandten gewohnten eigentümlich spöttisch-gleich-
    giltigen und ein wenig an Cynismus erinnernden
    Ton, daß allerdings jetzt weniger als je die Aussicht
    einer Heirat für sie vorhanden sei. Auch war es nur
    zum Teil Eitelkeit und viel wirkliche Entschlossen-
    heit, was sie betonen ließ, daß sie kaum noch die
    Neigung haben könne, einem dieser Männer die
    Hand zu reichen, die sie in einer fast zehnjährigen
    gesellschaftlichen Laufbahn zu deutlich kennen ge-
    lernt, um noch die einem Verlobten gegenüber gewiß
    erforderlichen Illusionen zu besitzen.
    Nach einer besonders ausführlichen Besprechung
    dieser Art ergriff Herr Linter, Geschäftsmann von ra-
    schem Entschluß wie er war, das immer noch erüb-
    rigende und anerkannt wirksame Mittel, sich seiner
    Vaterpflichten zu entledigen: eine Reise nach Europa.
    Nach mehrmonatlichem

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