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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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daß die Mischung
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    von leisem, verhaltenem Grauen und tiefinnerer, su-
    chender und verlangender Hingebung, die er in ih-
    rem Auge gewahrte, genau dasjenige war, was im
    nämlichen Augenblicke in seinem eigenen ausge-
    drückt sein mußte.
    In der nächsten Minute, während welcher ihre
    Augen aneinander geheftet blieben, war es, als ob
    jene suchende Hingebung einen Gegenstand zu fin-
    den auf dem Wege sei. In einer augenblicklichen Wil-
    lenslähmung bemerkte Wel kamp, ohne es doch hin-
    dern zu können, wie die unsicheren Schauer, von de-
    nen er berührt war, die bestimmtere Gestalt von Ver-
    langen und sogar Begehrlichkeit annahmen. Der
    Vorgang war ohne Zweifel bei Dora ohne Unter-
    schied der gleiche; denn als der junge Mann sich
    endlich von dem seltsamen Banne befreien konnte,
    nahm er auch bei ihr das plötzliche Erschrecken, wie
    beim Auffahren aus einem halben Traumzustande,
    wahr. Auch war die darauf folgende peinliche Verle-
    genheit bei beiden gleich stark. Sie wechselten, an
    einander vorübersehend, noch einige wenige Worte,
    worauf Wellkamp sich verabschiedete.
    Im Vorzimmer fiel ihm unvermittelt ein, daß der
    gedankenlos gesprochene Vorwand, mit dem er sich
    entschuldigt, zufällig der gleiche gewesen, mit dem
    er kaum eine Viertelstunde zuvor Anna verlassen. In
    hastiger Gedankenverbindung drängte sich ihm ein
    Vergleich der beiden hinter ihm liegenden Unterre-
    dungen auf. Und die soeben empfundene Verlegen-
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    heit wurde zur Scham und zu stillen, heftigen Selbst-
    vorwürfen, als er sich das Ergebnis dieses Abends
    gestehen mußte, welches darin bestand, daß er das
    Gespräch mit seiner Braut beendet hatte, weil ihre
    ruhige und verständige Auffassung der Dinge, wie
    sehr sie ihn damals angezogen haben mochte, ihn
    heute erkältet hatte – während er im Gegenteil das-
    jenige mit Dora abgebrochen, weil sein Interesse
    allzu stark, sein Blick zu heiß geworden.
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    IV
    Wie oft Wellkamp sich in den nächsten Tagen wie-
    derholte, daß er an jenem Abend durch die Art, wie
    er die Scene mit Dora beendigt, völlig korrekt ge-
    handelt habe, daß ihre beiderseitigen Empfindungen
    während jener seltsamen Minuten in sich selbst ver-
    sunken und ohne wechselweisen Zusammenhang
    gewesen – so war er doch ohnmächtig gegenüber
    dem rätselhaften Bewußtsein, das eine seit jener
    Stunde zwischen ihm und der jungen Frau eingetre-
    tene Annäherung feststellte. Er ertappte sich dar-
    über, daß er sie in seinen Gedanken, die sich jetzt
    häufiger um eine Vergleichung von Wesensäußerun-
    gen seiner Braut und Frau v. Grubecks zu drehen be-
    gannen, mit ihrem Vornamen nannte. Blieben diese
    seine Gedanken zuweilen an einem Punkte stehen,
    über den er in Träumereien versank, so bemerkte er
    später, daß sie, mit der er sich auf diese Weise unbe-
    wußt beschäftigt, Dora gewesen.
    Noch mehr. Einmal unerwartet ins Zimmer getre-
    ten, hatte er seine Braut mit Frau v. Grubeck beim
    Austausch der halb unterdrückten Feindseligkeiten
    überrascht, die den Verkehr der beiden Frauen be-
    zeichneten, und von Anna ein ungeduldiges Wort
    aufgefangen. Er konnte sich in diesem Augenblick
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    nicht entschließen, sie anzureden, aus Furcht, un-
    freundlich zu sein.
    »Warum ist sie so ungerecht? Welch alberne Eifer-
    sucht in diesen häuslichen Dingen, über die sie doch
    sonst hinwegzublicken den Anschein hat!« So
    dachte er im Vorübergehen.
    Er bemerkte nachher selbst, daß seine erste Re-
    gung ohne weiteres Anna Unrecht gegen ihre Geg-
    nerin gegeben hatte.
    Seine Stellung zu Dora war dadurch eine schwie-
    rigere geworden, die ihm Rätsel aufgab und zuwei-
    len sein Benehmen verwirren konnte. In ihrer Ge-
    genwart, welche jedesmal, wie bei ihrer ersten Be-
    gegnung, so viele Gegensätze, so viel seine Sympa-
    thien Verletzendes zu Tage förderte, war es ihm un-
    begreiflich, wie dennoch seither eine engere Bezie-
    hung zwischen ihnen hergestellt sein konnte. Denn
    es kam, als neues Rätsel, die Bemerkung hinzu, daß
    sie dieses Bewußtsein mit ihm teilte. Er mochte sich
    bei einer Gelegenheit, die ihm dies deutlich machte,
    ungeduldig und zornig fragen, was sie dazu berech-
    tigte – ohne doch zu wagen, ihr Unrecht zu geben.
    Unter ihren nächsten Gesprächen war eines, wel-
    ches darum besonderen Eindruck auf ihn machte,
    weil er darin den Unterschied ihres Verhältnisses
    jetzt und früher angedeutet fand. Dora hatte, worauf
    sie die Unterhaltung mit Vorliebe hinausführte, wie-
    der ihre

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