In einer Familie
ohne das keine Spiege-
lung möglich wäre.«
»Nur daß eben dies Dahinterliegende Dir den Ge-
genbeweis an die Hand gibt: es ist immer etwas sehr
Irdisches und häufig sogar etwas ganz Unansehn-
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liches, was in der Luft – oder in Deinem Empfinden
– gespiegelt so große Wirkungen hervorbringt.«
Wie Wellkamp nach diesem leicht und wie selbst-
verständlich ausgesprochenen Einwände in die vo-
rige passive Stimmung zurücksank, tauchte unver-
mutet mit seltsamer Deutlichkeit ein Bild vor seinem
Geiste auf, worin er sich selbst in einer Situation er-
blickte, die in eigentümlicher Weise den Vergleich
mit der augenblicklichen herausforderte.
Er sah sich als zehn- oder elfjährigen Knaben im
Hause seiner alten Großmutter, in dem sogenannten
Sommerzimmer, welches weniger nach seiner Aus-
sicht auf den schattigen alten Garten so benannt war,
als nach den die Wände zierenden altmodischen
Tapeten, auf denen die wechselnden Scenen des som-
merlichen Landlebens dargestellt waren. Der kleine
Erich, der auf einem erhöhten Schemel an dem unge-
heuer breiten und soliden Tische saß, richtete seine
Blicke von dem violetten Abendhimmel nach dem
Muster des Claude Lorrain, der in der Reihe der
Landschaften immer wiederkehrte, auf die alte Frau
ihm gegenüber. Zu ihrem graugestreiften Seiden-
kleide und der Spitzenhaube, unter der ihr welkes,
gütiges Gesicht hervorblickte, saß sie, ohne sich an-
zulehnen, gerade aufgerichtet in dem steiflehnigen
Sopha von rotem Damast und kannte keine Unge-
duld bei der Menge von Fragen, die der Enkel ihr mit
dem Anspruch auf alsbaldige Lösung vorlegte. In ei-
ner Pause gewissenhaften Nachdenkens strich sie
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wohl mit ihrer knochigen und auch wie Knochen
weißen Hand über die gleich dem Sopha rotdama-
stene Tischdecke hin und her, um dann aufs neue den
Wissensdurst des Kindes zu befriedigen.
»Wie die Welt einmal untergehen wird, mein
Kind«, hörte Wellkamp sie sagen, »das wissen wir si-
cher, denn die Schrift sagt es uns: es wird durch
Feuer vom Himmel geschehen.«
Dann legte sie ihre weiße Hand auf die vor ihr auf-
geschlagene dicke, messingverzierte Familienbibel,
während ihre ruhigen, niemals fragenden Augen
noch zuversichtlicher blickten als vorher. Der Knabe
pflegte in den seelischen Nöten eines ersten kind-
lichen Skeptizismus sich an die alte Frau zu wenden,
und wenn die Krankheit dieses frühen Unglaubens
trotz ihrer Heilungsversuche in ihm fortwuchs, so
kannte er doch in diesen Augenblicken, wenn in der
nun eintretenden Stille nur das leise, klingende Tik-
ken der Stutzuhr auf dem Schreibtische der Groß-
mutter hörbar war, schon damals das weiche, süß
einschmeichelnde und schläfernde Gefühl der Si-
cherheit und des Beruhigtseins, das heute den Mann,
der soviele Anschauungen und Überzeugungen
nacheinander angenommen und als ungenügend
wieder von sich abgethan, bei dem Klange der festen,
durch keinen Zweifel getrübten Stimme seiner Braut
mit seinen Schauern berührte.
Das plötzliche Auftauchen jener seit langen Jah-
ren kaum mehr belebten Erinnerung zeigte, ob er
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sich nun ausdrücklich darüber klar ward oder nicht,
zur Genüge, wie innig seine Empfindung die beiden
Situationen, die jetzige und die von damals, mit ein-
ander verband. Hier wie dort war er, der auf offener
See von widerstreitenden Winden Umhergetriebene,
zur Rast in einen stillen Hafen eingelaufen, wie ihn
Seelen wie die in beiden Fällen mit ihm in Berüh-
rung gekommenen zu bilden schienen. Die fremden
Wellen, welche in das keineswegs stagnierende Was-
ser hineinfließen, vermögen dennoch an seiner fest-
abgegrenzten, tiefinneren Ruhe nichts zu ändern.
Zugleich aber knüpfte sich für ihn an die soeben
wieder durchlebte Kindheitsscene die wie nie vorher
sichere und ausgeprägte Erkenntnis der Mittel, mit
denen eine solche »Hafenruhe« in einer Seele herge-
stellt wird. Daß das Leben eines Menschen zu sei-
nem sinnlichen Glück geführt war – und es hatte
eine Zeit gegeben, wo Wellkamp allein in dem Man-
gel eines solchen den Grund für die Disharmonie
seines Daseins erblickt hatte – war nicht alles.
Ebenso unerbittlich forderte jene unerklärliche
Sehnsucht ihre Befriedigung, die man ehemals als die
»übersinnliche« zu bezeichnen gewohnt war, und
die, mit etwas verändertem Wortsinne, vielleicht
thatsächlich etwas Übersinnliches, das heißt den
denkbar feinsten und gleichsam über die Sinne
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