In einer Familie
rücksichtslos
und ohne Besinnung hinzugeben. Sie hatte sich
ängstlich gehütet, die Besuche im Arbeitskabinet
Herrn v. Grubecks, welche sie seit der Abwesenheit
des jungen Paares zu machen begonnen, seltener
werden zu lassen, und es war ihr gelungen, den
freundschaftlichen Ton im Verkehr mit ihrem Gat-
ten zu erhalten und zu befestigen. Heute nun, da sie
ihn stark beschäftigt gefunden und von ihm gehört,
daß er den ganzen Tag reichlich zu thun haben
werde, hatte sie die Gelegenheit genützt, seine Be-
gleitung in die Oper zu erbitten. Er hatte gefürchtet,
sich tagsüber allzusehr zu ermüden, und ihr angebo-
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ten, sich von Wellkamp begleiten zu lassen. Der Ab-
lehnung Annas war sie hinreichend sicher gewesen.
Das Ganze hatte sich zufällig und wie absichtslos
gemacht; doch hätte sie, falls sich nicht jene Gele-
genheit geboten, an diesem Tage irgend eine andere
gesucht und gefunden. Es gibt in dieser Weise einen
Steigerungsgrad in jedem lange ausgehaltenen und
dabei außerordentlichen seelischen Zustande, wo
eine plötzliche Abspannung notwendig wird. Sie
tritt häufig in einer, bei großer geistiger Ermattung
besonders mächtigen Stimmung auf, die uns später-
hin als Ursache vieles Geschehenen erscheinen kann.
Gleichwohl ist sie meist nicht an sich bedeutend
oder verhängnisvoll und hat ihre Bestimmung nur
als Ruhepunkt, der zur Vorbereitung auf künftige
Stürme notwendig ist. Denn das Fahrwasser, wel-
ches wir einschlagen, braucht nicht ruhiger zu sein,
als das, welches wir verlassen, nur wissen wir sicher,
daß es ein anderes sein muß. Dora erhielt mit jenem
Augenblick die Gewißheit, daß die Zeit der Erwar-
tung für sie zu Ende sei.
Der Ruhemoment wurde in diesem Fal e geradezu
durch körperliche Abspannung herbeigeführt. Frau
v. Grubeck hatte die Nacht, ebenso wie manche der
voraufgegangenen, fast ganz schlaflos verbracht.
Aus einem vor Übermüdung unruhigen Schlummer
war sie nach Mitternacht unter Schluchzen aufgefah-
ren. Es hatte sich wieder der Weinkrampf eingestel t,
dem sie in letzter Zeit öfter unterlag. Die fieberhafte
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Sehnsucht, welche in solchen Stunden bis zur Uner-
träglichkeit wuchs, wurde durch den bittern Trotz
verschlimmert, der die gequälte Frau bei dem Ge-
danken erfaßte, daß dieser unmenschliche Zustand
recht eigentlich die Folge und das Ergebnis ihres bis-
herigen Lebens sei. Darum hatte sie so lange die Wi-
dersprüche ihrer Natur gewaltsam unterdrückt, sich
in Abgeschlossenheit und künstlicher Ruhe erhal-
ten, um am Ende dennoch die unbezwinglichen
Grundtriebe hervorbrechen zu sehen. Sie hatte bis
zu ihrem neunundzwanzigsten Jahre jenes Dasein
geführt, um nun die Arme krampfhaft nach dem Le-
ben auszustrecken, von dem sie bisher nichts anzu-
nehmen gewagt. – Dazu war, wie eine ausdrückliche
Erinnerung an ihr verflossenes Dasein, durch ihr
Ankleidezimmer, das die beiden Schlafgemächer
verband, das Geräusch, welches ihr Gatte im Schlafe
verursachte, zu ihr herübergedrungen.
An diesem Morgen nun hatten sich die Folgen all
der seelischen Anstrengungen endlich in einer hal-
ben Bewußtlosigkeit geltend gemacht. Dora saß, das
kaum berührte Frühstück noch neben sich, fröstelnd
am Kamin, in dem ein starkes und schnel es Tannen-
holzfeuer brannte. Es kam der jungen Frau darauf
an, möglichst viel Wärme auf einmal zu erhalten; sie
bog sich zuweilen ungeduldig gegen die Glut vor,
wenn die kalten Hände, die sie im Schoße ruhen ließ,
sich immer noch nicht erwärmen wollten. Dabei
schoben sich die weiten Ärmel des Nerz-Jaquets, das
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sie über dem hellen Morgenkleide trug, zurück und
ließen den Feuerschein über ihre feinen, wiewohl et-
was zu knochigen Arme, sowie über das Gesicht
gleiten, das mit starren Augen und festgeschlosse-
nem Munde in die Glut sah. Dann saß sie aufs neue
bewegungslos, die Füße in den schmalen Lackschu-
hen, an die der schwarzseidene Strumpf über dem
Knöchel elegant ansetzte, gegen das Kamingitter ge-
stützt. Ihr Haar, bereits vollständig geordnet, ver-
mochte nicht so wie die meisten Schattierungen des
Blond, im Feuerschein Funken zu sprühen. Es be-
wahrte seinen matten Glanz, gleich der Hautfarbe,
die unter der hin und her huschenden Beleuchtung
weiß hervorblickte. Das Zimmer erhielt sein Licht
nur von dem flackernden Feuer, da die grelle Sonne
des Wintermorgens durch doppelte Fenstervor-
hänge fast vollständig abgewehrt war.
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