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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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Dinerstunde
    fiel, so pflegte man an Theaterabenden frühzeitig et-
    was zu sich zu nehmen und die Mahlzeit nach der
    Vorstellung durch einen Imbiß zu vervollständigen.
    Indes hatte heute nur Wel kamp auf seinem Zimmer
    flüchtig gespeist. Dora fühlte sich trotz der großen
    Schlaffheit, die ihr noch immer die Glieder lähmte
    und den Kopf einnahm, nicht im stande, auch nur
    das Glas mit rotem Wein zu leeren, das sie auf den
    niedrigen Spiegeltisch ihres Toilettezimmers hatte
    setzen lassen. Sie hatte früher als gewöhnlich und
    ohne Hilfe der Jungfer begonnen, sich anzukleiden.
    Es war dies die einzige Beschäftigung, die sie ablen-
    ken und voll in Anspruch nehmen konnte. Dieser
    Raum, in dem sie sich zwischen Spiegeln und Ti-
    schen von verschiedenen Formen bewegte, welch
    letztere mit den zahllosen unscheinbaren und not-
    wendigen Toilettegeräten bedeckt waren, besaß für
    sie etwas von der ruhigen Abgeschlossenheit und der
    Fähigkeit anzuregen eines Arbeitskabinetts. Sie ver-
    wandte heute auf jede Einzelheit eine so ängstliche
    Aufmerksamkeit, daß es sie, wenn sie es gelegentlich
    wahrnahm, selbst unwillig machte. Dann warf sie
    sich wohl auf das breite, bequeme Ruhepolster, wel-
    ches eine Seite des kleinen Gemaches einnahm, um
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    Beunruhigung zu suchen, bis hinter ihren geschlos-
    senen Lidern von neuem die Vision des dicht Bevor-
    stehenden, Unvermeidlichen auftauchte, auf das sie
    geradeswegs zuging, und das sie dennoch bis zum
    letzten Augenblicke nicht zu sehen wagte. Sie sprang
    auf und setzte ihre Toilette fort. Endlich war nur
    mehr eine weiße Rose als einziger Schmuck in dem
    mit kunstvoller Schlichtheit geordneten Haare zu
    befestigen. Hatte sie die Blume ungeschickt berührt?
    Aus der Knospe, die kaum begonnen, sich zu öffnen,
    hatte sich bereits eines der zarten Blätter gelöst und
    flatterte langsam zuerst auf die Schulter der jungen
    Frau, dann zu Boden. Es mußte eine von den Rosen
    sein, die sich unnatürlich lange nicht zu erschließen
    vermögen, um endlich, ohne ein äußeres Verdorren,
    in voller Schönheit und noch als halbe Knospe alle
    ihre Blätter zu verlieren. Dora wollte nach einer an-
    deren Blume greifen, doch sie ließ es; ihre Geduld
    war erschöpft, und es wurde Zeit, bereit zu sein.
    Zwischen den hohen Spiegeln, die schräg einander
    gegenüberstanden, musterte sie sich noch einmal
    von Kopf bis Fuß. Über die fast durchsichtig licht-
    graue Robe legte sich harmonisch der weiße Atlas
    der Sortie mit seinem leise wogenden Schwanenfe-
    derbesatz. Als Frau von Grubeck mit Hilfe des
    Handspiegels noch einmal aufmerksam ihr Gesicht
    betrachtete, das sie bisher genauer zu prüfen vermie-
    den, erstaunte sie selbst über den fast fieberhaften
    Glanz ihrer Augen, der dem sonst matten Ausdruck
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    ihrer Züge widersprach. Ein schlaffer Zug um die
    Nasenflügel schien ihr allzu scharf ausgeprägt, die
    bläulichen Adern unter den Augen allzu deutlich
    sichtbar. Sie hielt bereits den Puderquast in der
    Hand, legte ihn aber wieder beiseite. Wozu die
    Wirklichkeit jetzt noch verleugnen? Mochte er se-
    hen, was sie um ihn gelitten. In der Stunde, bevor sie
    sich auf Gnade und Ungnade ergeben sol te, ward sie
    von der eigentlichen weiblichen Weichheit und Pas-
    sivität ergriffen. Sie fühlte sich zu müde und abge-
    hetzt, um noch zu trotzen und sich gegen irgend et-
    was oder irgend Jemand zu empören. Und was das
    Schuldgefühl betrifft, so gibt es Augenblicke, wo es
    notwendig tödlich wirken müßte, wenn es Einfluß
    gewänne.
    Sie betrat mit Wellkamp, der ihr, ohne sie anzuse-
    hen, die Thür öffnete, zusammen das Speisezimmer,
    um sich von ihrem Gatten zu verabschieden, der mit
    Anna bei der Mahlzeit saß. Noch an ihren langen
    Handschuhen nestelnd, war sie mit ihrem Begleiter
    mehrere Schritte vor dem breiten Speisetisch stehen
    geblieben. Auf Herrn v. Grubecks Anordnung, der
    tagsüber seine Augen angestrengt, war die Beleuch-
    tung auf eine kleine japanische Lampe beschränkt,
    die ausschließlich dem Tische ihr Licht gab. Die
    beiden hohen Figuren, die Dame ganz hell gekleidet,
    der Mann in schwarzem Gesellschaftsanzug, konn-
    ten, wie sie dort im Schatten neben einander stan-
    den, so daß für die Andern, im Licht Sitzenden die
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    Konturen ihrer modernen Toiletten verschwammen,
    den Eindruck machen, als seien sie aus einem alten
    Gemälde hervorgetreten. Die dunkle Holztäfelung
    des Speisesaales bildete den charakteristischen Hin-
    tergrund. Der Major

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