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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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junge Frau, selbst wenn sie einige
    Worte mit ihr wechselte, ohne jede innere Aufmerk-
    samkeit war. Um so schwerer war der Schlag, der sie
    wenige Augenblicke später traf, während sie ah-
    nungslos dem jungen Manne entgegenschritt, dessen
    Absicht, ihr seinen Dank abzustatten, sie bemerkte.
    Als sie bei einer zufälligen Kopfwendung jenem be-
    leidigenden Blick Annas begegnete, war es ihr that-
    sächlich, wie wenn sie einen heftigen Stoß vor die
    Stirn erhalten, der sie während einer Sekunde den
    Schritt anhalten ließ. Auch ihr Blut stockte einen
    Augenblick, um gleich darauf wie entfesselt seinen
    Kreislauf fortzusetzen. Sobald der Taumel, der sie
    ergriff, und in dem sie dennoch die Energie finden
    mußte, ihre ruhig-lächelnde Miene zu bewahren,
    niedergekämpft war, machte sie die Entdeckung, daß
    sie die letzten Wochen hindurch al es anders gesehen
    als es war, nun sie die grausame Wirklichkeit wieder-
    fand. Mit völliger Klarheit des Gefühls, welches
    wenigstens in solchen entscheidenden Momenten
    keinen der sonst so häufig verwirrenden und trüge-
    rischen Sophismen zuläßt, erkannte sie die Bedeu-
    tung des tollen Hasses, der sich mit einer nie geahn-
    ten Zügellosigkeit in ihr gegen jene Frau, gegen die
    Besitzerin des Mannes bäumte, dem jeder ihrer
    armen gequälten Gedanken galt. Die heiße Wallung
    158
    war sofort der eiskalten Entschlossenheit gewichen,
    nunmehr mit ganzer Rücksichtslosigkeit gegen alle
    und gegen alles ihre Macht zu brauchen. Denn nicht
    die Andere, sondern sie selbst war es, welche die
    Macht über den Mann besaß, welche sie in der ersten
    Minute des ersten Zusammenseins mit ihm in jedem
    ihrer Worte, in jeder Bewegung ihrer Stimme, in der
    ganzen Berührung ihres Wesens mit dem seinen ver-
    spürt hatte. Und nun ließ sie diese geheimnisvollen
    Kräfte spielen, um mit einer fast wilden Freude die
    Wirkung zu beobachten, die ihre äußerlich so un-
    bedeutenden Worte auf ihn hervorbrachten. Das
    nervöse Spiel seiner Stirn, seines Mundes und die na-
    menlose sinnliche Anspannung, mit der sie selbst
    jeder Bewegung seines geliebten, für sie so durch-
    sichtigen Gesichtes folgte, brachten ihr einen letzten
    Beweis, wenn ein solcher hier noch von nöten war,
    daß alles entschieden sei.
    Während sich die beiden Menschen nun an dem
    weihnachtlichen Familientisch gegenübersaßen,
    streifte inmitten der Unterhaltung, die trotz allem
    aufrecht erhalten werden mußte, zuweilen einer des
    andern Blick, um sich nur aufs neue zu vergewissern,
    daß die müde Traurigkeit in diesem schuldigen Blick
    die gleiche sei, in die ihn selbst diese traurige Leiden-
    schaft versenkt hatte.
    159
    VI
    Waren die Vorgänge des Weihnachtsabends Well-
    kamp von solcher Endgiltigkeit erschienen, daß er
    unter der Wucht der Entscheidung dem Zusammen-
    sinken nahe gewesen war, so sollte er unmittelbar
    darauf noch einmal den der Seele eingeborenen mo-
    ralischen Willen kennen lernen, in dem gerade
    schwache Charaktere zu ihrem instinktiven Fatalis-
    mus ein seltsames Gegengewicht zu besitzen pfle-
    gen. Das Gewissen weiß sie allemal zur Anerken-
    nung seiner Ansprüche zu zwingen, ehe sie diese
    dennoch verletzen. Die innere Stimme wird auch
    noch im lautesten Toben ihrer Leidenschaft hörbar,
    sei es auch nur, um sich von der Logik ihrer Begierde
    sogleich widerlegen zu lassen. Ohne sie ihren Wün-
    schen nachzugehen, vermögen sie ebensowenig, wie
    schließlich ihr zu gehorchen. Nirgends in ihrer In-
    nenwelt gibt es einen geraden Weg, der nicht von
    irgend einem Sophismus durchkreuzt und umgebo-
    gen werden könnte. Ihr Denken und Empfinden be-
    wegt sich in Winkelzügen; man sollte meinen, daß
    ihr Wesen der Selbstbetrug sei.
    Für Wellkamp stellte sich nach dem Vorgefalle-
    nen die Gewissenspflicht mit völliger Klarheit so
    dar, daß er sofort mit seiner jungen Frau Haus und
    160
    Stadt zu verlassen hatte, um in absehbarer Zeit
    nicht dorthin zurückzukehren. Es war dies ganz of-
    fenbar das einzige Mittel, um die thatsächliche Voll-
    endung dessen, was an jenem verhängnisvollen
    Abend innerlich entschieden war, unmöglich zu
    machen. Im Vergleich mit dieser Aussicht erschien
    alles andere als Nebensache und mußte demgemäß
    kurz behandelt werden. Wie er Anna gegenüber,
    wie er ihrem Vater seinen schnellen Entschluß be-
    gründen sollte, mußte sich finden, wenn es der
    Zweck einmal so wollte.
    »Ob aber der Zweck der Abreise wirklich erreicht
    werden würde?« fragte er sich, und er

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