In einer Familie
junge Frau, selbst wenn sie einige
Worte mit ihr wechselte, ohne jede innere Aufmerk-
samkeit war. Um so schwerer war der Schlag, der sie
wenige Augenblicke später traf, während sie ah-
nungslos dem jungen Manne entgegenschritt, dessen
Absicht, ihr seinen Dank abzustatten, sie bemerkte.
Als sie bei einer zufälligen Kopfwendung jenem be-
leidigenden Blick Annas begegnete, war es ihr that-
sächlich, wie wenn sie einen heftigen Stoß vor die
Stirn erhalten, der sie während einer Sekunde den
Schritt anhalten ließ. Auch ihr Blut stockte einen
Augenblick, um gleich darauf wie entfesselt seinen
Kreislauf fortzusetzen. Sobald der Taumel, der sie
ergriff, und in dem sie dennoch die Energie finden
mußte, ihre ruhig-lächelnde Miene zu bewahren,
niedergekämpft war, machte sie die Entdeckung, daß
sie die letzten Wochen hindurch al es anders gesehen
als es war, nun sie die grausame Wirklichkeit wieder-
fand. Mit völliger Klarheit des Gefühls, welches
wenigstens in solchen entscheidenden Momenten
keinen der sonst so häufig verwirrenden und trüge-
rischen Sophismen zuläßt, erkannte sie die Bedeu-
tung des tollen Hasses, der sich mit einer nie geahn-
ten Zügellosigkeit in ihr gegen jene Frau, gegen die
Besitzerin des Mannes bäumte, dem jeder ihrer
armen gequälten Gedanken galt. Die heiße Wallung
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war sofort der eiskalten Entschlossenheit gewichen,
nunmehr mit ganzer Rücksichtslosigkeit gegen alle
und gegen alles ihre Macht zu brauchen. Denn nicht
die Andere, sondern sie selbst war es, welche die
Macht über den Mann besaß, welche sie in der ersten
Minute des ersten Zusammenseins mit ihm in jedem
ihrer Worte, in jeder Bewegung ihrer Stimme, in der
ganzen Berührung ihres Wesens mit dem seinen ver-
spürt hatte. Und nun ließ sie diese geheimnisvollen
Kräfte spielen, um mit einer fast wilden Freude die
Wirkung zu beobachten, die ihre äußerlich so un-
bedeutenden Worte auf ihn hervorbrachten. Das
nervöse Spiel seiner Stirn, seines Mundes und die na-
menlose sinnliche Anspannung, mit der sie selbst
jeder Bewegung seines geliebten, für sie so durch-
sichtigen Gesichtes folgte, brachten ihr einen letzten
Beweis, wenn ein solcher hier noch von nöten war,
daß alles entschieden sei.
Während sich die beiden Menschen nun an dem
weihnachtlichen Familientisch gegenübersaßen,
streifte inmitten der Unterhaltung, die trotz allem
aufrecht erhalten werden mußte, zuweilen einer des
andern Blick, um sich nur aufs neue zu vergewissern,
daß die müde Traurigkeit in diesem schuldigen Blick
die gleiche sei, in die ihn selbst diese traurige Leiden-
schaft versenkt hatte.
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VI
Waren die Vorgänge des Weihnachtsabends Well-
kamp von solcher Endgiltigkeit erschienen, daß er
unter der Wucht der Entscheidung dem Zusammen-
sinken nahe gewesen war, so sollte er unmittelbar
darauf noch einmal den der Seele eingeborenen mo-
ralischen Willen kennen lernen, in dem gerade
schwache Charaktere zu ihrem instinktiven Fatalis-
mus ein seltsames Gegengewicht zu besitzen pfle-
gen. Das Gewissen weiß sie allemal zur Anerken-
nung seiner Ansprüche zu zwingen, ehe sie diese
dennoch verletzen. Die innere Stimme wird auch
noch im lautesten Toben ihrer Leidenschaft hörbar,
sei es auch nur, um sich von der Logik ihrer Begierde
sogleich widerlegen zu lassen. Ohne sie ihren Wün-
schen nachzugehen, vermögen sie ebensowenig, wie
schließlich ihr zu gehorchen. Nirgends in ihrer In-
nenwelt gibt es einen geraden Weg, der nicht von
irgend einem Sophismus durchkreuzt und umgebo-
gen werden könnte. Ihr Denken und Empfinden be-
wegt sich in Winkelzügen; man sollte meinen, daß
ihr Wesen der Selbstbetrug sei.
Für Wellkamp stellte sich nach dem Vorgefalle-
nen die Gewissenspflicht mit völliger Klarheit so
dar, daß er sofort mit seiner jungen Frau Haus und
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Stadt zu verlassen hatte, um in absehbarer Zeit
nicht dorthin zurückzukehren. Es war dies ganz of-
fenbar das einzige Mittel, um die thatsächliche Voll-
endung dessen, was an jenem verhängnisvollen
Abend innerlich entschieden war, unmöglich zu
machen. Im Vergleich mit dieser Aussicht erschien
alles andere als Nebensache und mußte demgemäß
kurz behandelt werden. Wie er Anna gegenüber,
wie er ihrem Vater seinen schnellen Entschluß be-
gründen sollte, mußte sich finden, wenn es der
Zweck einmal so wollte.
»Ob aber der Zweck der Abreise wirklich erreicht
werden würde?« fragte er sich, und er
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