In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
welche Weise sie sterben würde. Unter dem Eis. Sie sah Harrys Füße, dann seine Knie, als er sich neben ihr hinkniete. Seine Hand liebkoste die Seite ihres Gesichts, ein kalter Finger strich ihr über die Wange. Der Finger verharrte am Mund. Es war die sanfte Berührung eines Liebenden.
»Harry, Harry«, sagte sie mit Blut im Mund.
»Ja, Harry«, wiederholte er.
Anschließend packte er sie am Haar und riss ihren Kopf zurück, dass sie glaubte, ihr Genick würde brechen. Über sich sah sie sein Gesicht und die winzige verräterische Narbe. Dann rammte er ihr Gesicht auf das Eis, und sie hörte es knacken … oder war das ihr Schädel? Hatte er ihr den Hals wie einen gefrorenen Zweig gebrochen?
Ihre Wange lag in ihrem eigenen Blut, das tröstlich warm war.
Sie versuchte zu atmen, aber es war so schwer, durch das Blut im Mund Luft zu bekommen. Sie bekam einen lauten Schlag an ihren Kopf, und dann noch einen. Und sie hörte das Knacken und Ächzen des Eises, spürte das kalte Wasser darunter, das auf sie wartete und sie nach unten ziehen wollte.
Kurz darauf war Harry verschwunden. Irgendetwas, irgendjemand – ein Engel? – hatte ihn geholt.
Das Blut bildete eine Lache um ihr Gesicht, und es fühlte sich an, als würde sich das Eis unter ihr erwärmen. Sie hörte das Wasser platschen, es war so nah, so unglaublich nah, und leckte an ihr. Und ihr Blut schmolz den Raureif, so dass sie durch das Eis ins Schwarze schauen konnte, ins tiefste Schwarz, das sie je gesehen hatte. Hinter sich hörte sie gedämpfte Stimmen, und erneut bebte das Eis. Irgendjemand rief ihren Namen, doch das war nur das Wasser … Ein Engel hatte nicht Harry geholt. Ein Engel nahm sie an der Hand. Die ganze Welt knackte. Sie spürte, wie ihre Arme und Beine in diese und jene Richtung trieben, in warmem Wasser. Durch das Blut sah sie im indigoklaren Himmel unter dem Eis ihr eigenes Gesicht, alt und faltig mit einem Heiligenschein aus grauem Haar um den Kopf. Sie starb, sie schwebte an sich selbst vorbei. Auf Wiedersehen, sagte sie zu sich selbst, als sie starb.
Und dann ging es abwärts. Abwärts in die schwarze Tiefe, in das dunkle Wasser.
Da war ein riesiges schartiges Loch mitten im Teich, wo das Eis nachgegeben hatte, und etwas – jemand – lag daneben. Brownes Taschenlampe beleuchtete das kurze blonde Haar und die bekannte Jacke: Es war Costello.
»Stopp!«, schrie sie, so laut sie konnte, doch Costello wurde weitergeprügelt wie eine Lumpenpuppe. Browne brüllte erneut. Der Mann hob den Arm hoch und hielt eine Art Stock in der Hand, und die Hiebe gingen nieder. Schwarzes Blut spritzte auf das Eis. Browne schrie voller Angst in ihr Funkgerät, als etwas an ihr vorbei durch den Kegel ihrer Taschenlampe hinaus aufs Eis schoss. Entsetzt beobachtete sie die kleine Gestalt, die die andere wie beim Rugby ansprang. Fäuste schlugen zu, Knochen knackten, und dann gab das Eis nach. Wie in Zeitlupe öffnete sich das klaffende Schwarz des Wassers und verschlang beide.
Browne konnte Costello nicht mehr sehen. Sie fuchtelte wild mit der Taschenlampe herum, und da war sie. Die Umrisse wurden vom Wasser verzerrt. Es zog sie nach unten. Die Eisscholle, auf der sie lag, kippte plötzlich, und Costello glitt ebenfalls ins dunkle Wasser.
Unter das Eis.
Browne zögerte nicht. Sie stieß einen Urschrei aus, der die schlafenden Vögel aus den Bäumen scheuchte, rannte den schrägen Rasen hinunter und machte einen weiten Satz.
Anderson nahm das fallen gelassene Funkgerät, betrachtete es und drückte auf den Alarmknopf. Plötzlich hallte ein tiefes Knacken durch die Nacht. Das Eis bewegte sich. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf den Teich. Zuvor hatte er einen Schrei gehört, aber jetzt herrschte Stille. Dann hörte er ein schwaches Wimmern vom Eis.
»O Mist.« Browne war dort draußen. Er rief ihr zu: »Was machen Sie denn da draußen?«
Sie antwortete wie ein schwaches Echo. »Ich habe sie, ich habe sie.«
Er sah Costello, wie sie sich sanft bewegte, als würde sie von einer unsichtbaren Hand gehoben und gesenkt, und Browne mühte sich ab, sich durch das Wasser zu schieben und dabei Costellos Kopf oben zu halten. Doch zwischen ihnen und dem Ufer befand sich noch eine dicke Scholle festes Eis.
Anderson drückte erneut auf den Alarmknopf, dann warf er das Funkgerät auf den Boden, zog sich die Jacke aus und legte sich hin, um sie aufs Eis zu rollen. Flach ausgestreckt, versuchte er, zu ihnen hinüberzurutschen, wobei das Eis allerdings
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